Ein Wort im Wandel:
"Lieber Gott, gib uns den Terror von gestern zurück!"
Henryk Broders Israel Tagebuch
April 2002
Erschienen in
Spiegel Online
Früher dachten viele Israelis bei dem Wort Terror hauptsächlich an den
Druck, den ihre strenggläubigen Landsleute ausübten. Heute wünschen sie
sich den Terror von damals zurück.
Wenn früher die Rede
von Terror war, dann waren nicht unbedingt die gewalttätigen Aktionen
palästinensischer Kamikaze-Kämpfer gemeint. Terror war etwas
Alltägliches, Lästiges, aber nicht Lebensbedrohliches. Zum Beispiel:
Während der Pessach-Woche dürfen religiöse Juden nur ungesäuertes Brot,
die so genannten Matzen essen. Beim Auszug aus Ägypten hatten es die
Israeliten so eilig, dass sie nicht warten konnten, bis die Hefe
"gezogen" war, also wurde für die Reise Brot ohne Hefe gebacken.
xxx (Foto:
Henryk M. Broder) |
Matzen schmecken
nach nichts, aber wenn man sie ordentlich mit Butter, Quark und
Honig schmiert, können sie eine Delikatesse sein. Ich esse das ganze
Jahr über Matzen, aber ausgerechnet in der Pessach-Woche schmeckt
mir Brot viel besser, am besten frisch gebackene Pita, warm aus dem
Ofen. |
Früher war es ganz
einfach: man ist nach Ostjerusalem oder nach Betlehem gefahren und hat
beim nächsten arabischen Bäcker eingekauft. Das würde kein Israeli heute
mehr riskieren, wer nicht rechtzeitig genug Pita eingekauft und im
Kühlschrank gebunkert hat, der muss Matzen essen.
Aber dabei bleibt es
nicht. Nicht nur Brot ist tabu, auch Pasta, Kekse, Tütensuppen, Bier und
andere Artikel des tägliches Bedarfs, die gesäuert, also mit Hefe
hergestellt wurden. In den Supermärkten werden die Regale nicht
ausgeräumt, das wäre zu mühsam, sie werden mit Plastikfolie zugehängt.
Im Laufe der Pessach-Woche bekommt die Abdeckung immer mehr Löcher.
Nichtreligiöse Juden wehren sich gegen den "Terror" der Tradition, indem
sie hinter die Plastikfolie greifen und nehmen, was sie haben möchten.
Denn es gibt kein Gesetz, das den Konsum gesäuerter Lebensmittel
verbietet, nur eine informelle Regelung. Wie effektiv sie eingehalten
wird, hängt vom Einzelnen ab.
"Ich darf dir die
Kitkat-Waffeln nicht verkaufen", sagt Mosche, dem der Laden an der Ecke
gehört, "du weißt doch, wir haben Pessach". Ich habe drei Kitkat-Tafeln
aus einer "verbotenen" Ecke genommen und sie in meinen Einkaufswagen
gelegt. "Das ist mir egal, ich halte mich nicht an die Regeln, ich sage
dir nicht, was du essen sollst und du sagst mir nicht, was ich nicht
essen darf." - "Ich darf sie dir trotzdem nicht verkaufen", sagt Mosche
völlig unbeeindruckt, nimmt die drei Kitkat-Tafeln aus dem Korb und legt
sie ins Regal zurück. Ich bin so platt, dass ich kapituliere. Statt
wieder ans Regal zu gehen, eine Kitkat-Tafel aufzureißen, sie mir in den
Mund zu stopfen und vor Moshe aufzuessen, murmele ich nur was von
"Terror", lege die Sachen aus dem Einkaufswagen auf das Band an der
Kasse, zahle und gehe.
Im großen
Supermarkt drei Straßen weiter sind die Regale auch verhängt, aber
ich weiß genau, wo Kitkat liegt, und der Kassiererin, die aus
Russland stammt, ist es egal, was ich heim nehme. Das kann auch
damit zusammenhängen, dass der große Laden ziemlich leer ist. Die
Leute kaufen wieder in den kleinen Läden ein, wo die Auswahl kleiner
ist und die Preise höher, denn es hat sich noch kein
Selbstmordattentäter vor einem "Makolet" in die Luft gesprengt, vor
einem "Super" dagegen schon. |
xxx (Foto:
Henryk M. Broder) |
Mit einem Vorrat an
Schokokeksen im Eisschrank könnte ich auch das Ende der Pessach-Woche in
Jerusalem abwarten, aber ich beschließe, vorher schon nach Tel Aviv zu
fahren. Man fährt 50 Minuten bergab mit dem Auto und ist in einer
anderen Welt. In den schicken Bäckereien an der Ibn-Gvirol-Straße gibt
es Brot zu kaufen, an der Strandpromenade hat "Abulafia", ein arabischer
Bäcker aus Jaffo, eine Filiale aufgemacht und verkauft ofenfrische Pita
und Pizza. In Tel Aviv gehen die Uhren anders. Die Stadt wurde von
Bauhaus-Architekten gebaut, heute bestimmen Hochhäuser die Skyline. Die
beiden "Azrieli-Tower" waren bis vor kurzem die höchsten Gebäude im
ganzen Nahen Osten. Jetzt werden im Börsenviertel noch höhere
Wolkenkratzer gebaut.
xxx (Foto:
Henryk M. Broder) |
Aber auch Tel
Aviv ist anders geworden, als es noch vor ein paar Wochen war. Die
Strandpromenade ist leer, was nicht nur an den kühlen Temperaturen
liegt, die Tel Aviver bleiben zu Hause. "Wir könnten nach Jaffo
fahren", sagt Nathan, "Jaffo ist ziemlich sicher". Denn in Jaffo
leben israelische Araber. Früher galt Jaffo deswegen als unsicher,
heute gilt das Gegenteil. So ändern sich die Umstände. |
Also fahren wir nach
Jaffo und beenden den Tag in einem arabischen Restaurant. Außer uns sind
keine Gäste da. Nathan lässt sein Radio die ganze Zeit an und den Knopf
im Ohr. Damit wir keine Nachricht verpassen. "Waren das noch Zeiten, als
wir uns über den Terror der Frommen aufgeregt haben", sagt Hannes, "wie
lange ist das her?" "Es kommt mir wie gestern vor", sagt Gabi. "Es war
gestern", sagt Tobi.
"Lieber Gott", denke
ich, "gib uns den Terror von gestern zurück".
haGalil onLine 28-04-2002 |