Israel in Angst
Die Bombe in der
Melone
Henryk Broders Israel Tagebuch
April 2002
Erschienen in
Spiegel Online
Was ist schon sicher in Zeiten permanenter Selbstmordattentate und immer
neuer Panzervorstöße? Der alltägliche Umgang mit der Bedrohung in
Israel.
Attentate: So
berichtete die
"Jerusalem Post" über
den Anschlag in Haifa
(Foto: Henryk M. Broder) |
Wo geht man
einkaufen, wenn man kein Held sein will? Im Supermarkt oder im
Tante-Emma-Laden um die Ecke? |
Es gab immer
Terroranschläge in Israel, aber über einhundert Tote in vier Wochen gab
es noch nie. Früher hatten die Bombenwarnungen sogar einen gewissen
Unterhaltungswert. Wo immer eine herrenlose Aktentasche herumstand, eine
Tüte mit Einkäufen vergessen wurde oder ein einsamer Schulranzen
Verdacht erregte, wurde sofort der Sprengmeister der Polizei gerufen.
Der kam in seinem Jeep
angerast, stellte den Wagen quer über die Straße, und alle wussten, was
es bedeutet. Man blieb in angemessener Entfernung stehen und schaute zu,
wie der Mann eine schwere Schutzweste aus Bleiplatten und einen Helm
anlegte, auf das "Objekt" zuging und es begutachtete.
Dann ging er zu seinem
Wagen, holte eine Kabeltrommel, kehrte zu dem "Objekt" zurück,
befestigte das Kabel daran und rollte die Trommel auf, bis er hinter
seinem Wagen oder einer Mauer in Sicherheit war. Es machte "Bang!", und
Papierfetzen flogen durch die Luft oder Joghurtbecher explodierten. So
war es meistens. Ab und zu wurde sogar eine richtige Bombe entschärft.
Und immer waren die
Israelis stolz darauf, wie gelassen sie mit der Gefahr umgingen. Für
Touristen war so ein "Bombenalarm" der absolute Höhepunkt ihres
Israel-Aufenthalts. Ich habe einmal auf einer Post in Jerusalem erlebt,
was passiert, wenn die Frage "Wem gehört das Paket da in der Ecke?"
unbeantwortet bleibt.
Alle Kunden verließen
in völliger Ruhe den Raum und warteten draußen, bis der Sprengmeister
seinen Job beendet hatte. Kaum war der Mann fertig, brach unter den
Postbesuchern eine Panik aus, denn jeder versuchte die Gelegenheit
auszunutzen, um einen besseren Platz in der Warteschlange zu erwischen.
Das alles ist
nicht allzu lange her, aber längst Historie. Mit einer gewissen
Wehmut erzählen sich Jerusalemer die Geschichte von der Bombe, die
in einer Melone versteckt war und von einem aufmerksamen
Supermarkt-Mitarbeiter rechtzeitig entdeckt wurde, weil die Melone
Geräusche von sich gab. Waren das noch Zeiten! |
Jerusalem:
Die
Ben-Jehuda-Fußgängerzone im
Zentrum der Stadt zur
Mittagszeit (Foto: Henryk M.
Broder) |
Heute dagegen sind
Selbstmörder unterwegs, denen ein Platz im Himmel versprochen wurde, und
die Erinnerung hat Mühe, mit den Anschlägen Schritt zu halten.
Vorgestern ein Hotel in Netanja, gestern ein Restaurant in Haifa, heute
ein Café in Tel Aviv. 22 Tote, 15 Tote, 35 Verletzte. Was vor einer
Woche passiert ist, ist nicht mehr gegenwärtig. Jeder fragt sich: Wo
könnte die nächste Bombe hochgehen?
Eigentlich wäre wieder
Jerusalem an der Reihe. Die Stadt ist eine leere Hülle. Die meisten
Cafés sind geschlossen, vor den wenigen, die geöffnet sind, warten
kräftige Wachleute mit Metallsonden auf Besucher. Im Café Aroma, sonst
ein beliebter Treffpunkt, stehen schon am frühen Abend die Stühle auf
den Tischen. In der Innenstadt gibt es ausnahmsweise mehr Parkplätze als
Autos.
Wir fahren über die
King George Street in die Rehov Strauss, umrunden den Russian Compound,
in normalen Zeiten der Nabel des Nachtlebens, biegen in die Jaffo ab und
rollen über die Derech Hebron heim nach Talpiot. Unterwegs kommen uns
mehrere Polizeiautos mit Blaulicht entgegen.
Zu Hause angekommen,
machen wir gleich das Fernsehen an und erfahren, dass an einer Kreuzung
hinter dem Russian Compund, wo wir vor ein paar Minuten waren, eben eine
Autobombe explodiert ist.
Den Fahrer des Wagens
hat es erwischt, es gab mehrere schwer Verletzte. Wie immer in solchen
Fällen ist das Fernsehen gleich zur Stelle und sendet live aus dem
Chaos. Es ist der fünfte Anschlag in vier Tagen. Da es, abgesehen von
dem Attentäter, der inzwischen im Paradies angekommen ist, keine Toten
gegeben hat, dauert die Live-Übertragung nur kurz, dann geht das
reguläre Programm weiter: eine Dokumentation über die Geschichte der
Pop-Musik. Abba war wirklich toll.
Aus Köln ruft ein
Kollege vom WDR an und fragt, ob es in den letzten Tagen "etwas
gravierend Neues" gegeben hat. Eigentlich nicht, sage ich, nur über 30
Tote. Nathan ruft aus Tel Aviv an und sagt, er hat einen guten Witz
gehört. Was ist ein verzweifelter Mensch? Ein Selbstmord-Attentäter auf
der Suche nach einer Menschenmenge.
Ich überlege, wo ich
morgen einkaufen gehe. In den Supermarkt im Einkaufszentrum oder in den
"Makolet" (ein Tante-Emma-Laden der israelischen Art) gleich um die
Ecke. Die Produkt-Auswahl spricht für den Supermarkt, alles Übrige für
den Tante-Emma-Laden.
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Teil 1,
30.03.2002:
"Auf
Wiedersehen nach dem Krieg um halb sechs"
Teil 3,
03.04.2002:
"Ich möchte nicht hysterisch werden"
Teil 4,
07.04.2002:
Für eine Grenze mit einem Zaun
Teil 5,
08.04.2002:
Sind die Palästinenser schuld am Bau der israelischen Siedlungen?
Teil 6,
10.04.2002:
Macht, Ohnmacht, Horror, Trotz - und alle machen weiter
Teil 7,
15.04.2002:
"Lieber Gott, gib uns den Terror von gestern zurück!"
haGalil onLine 23-04-2002 |