Kibbuz Rachel
"Ich möchte nicht hysterisch werden"
Henryk Broders Israel Tagebuch
April 2002
Erschienen in
Spiegel Online
Leben im Kibbuz - auch in diesem Mini-Kosmos ist Normalität zurzeit
Fehlanzeige. Die Ängste, die die Menschen in Israel umtreiben.
In Jerusalem gibt es
einen Kibbuz, dessen Einwohner Kommunismus auf hohem Niveau
praktizieren. Dort lebt auch Claudia, die vor 25 Jahren aus Deutschland
gekommen ist.
Den besten Blick auf
Betlehem hat man von Ramat Rachel. Zwischen dem Kibbuz am südlichen Rand
von Jerusalem und der palästinensischen Stadt in der judäischen Wüste
liegen grade fünf Kilometer. Die Straße von Jerusalem nach Betlehem
führt an Ramat Rachel vorbei.
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Verließ vor
25 Jahren
Deutschland: Claudia (Foto:
Henryk M. Broder) |
Bis vor kurzem wurde
sie sowohl von Palästinensern als auch von Israelis benutzt und galt
deswegen als ziemlich sicher. Jetzt sind nur noch wenige Autos
unterwegs, Betlehem wurde von der israelischen Armee abgeriegelt,
Palästinenser können weder rein noch raus, und Israelis, die in eine der
Siedlungen im Gusch-Etzion-Block südlich von Betlehem wollen, machen
lieber einen großen Bogen um die Stadt Jesu.
Vor dem
Sechs-Tage-Krieg 1967 hörte Israel in Ramat Rachel auf. Der Kibbuz wurde
in den zwanziger Jahren von Einwanderern aus Polen und Russland
gegründet, als landwirtschaftliche Siedlung aber auch als strategisch
wichtiger Posten. Im Unabhängigkeitskrieg wurde Ramat Rachel dreimal von
Soldaten der Arabischen Legion überrannt und dreimal von den Israelis
zurückerobert. Auf beiden Seiten floss viel Blut.
Heute leben etwa 60
Familien und einige Singles auf dem Hügel, der nach der Ur-Mutter Rachel
benannt wurde, deren Grab in der Nähe liegt. Landwirtschaft als
Arbeitsgrundlage und Einkommensquelle spielt kaum noch eine Rolle, der
Kibbuz betreibt ein Hotel, ein Konferenzzentrum, einen Saal für
Hochzeiten und andere Familienfeiern und ein Schwimmbad.
An die alten Tage, da
man den Mangel gerecht teilen musste, erinnert nur noch der Speisesaal.
Frühstück gibt es um 8, Mittag um 12, Abendbrot um 18 Uhr. Jeder nimmt,
so viel er mag, was praktisch bedeutet: Es bleibt immer viel Essen
übrig, das im Kibbuz-eigenen Zoo an die Tiere verfüttert wird.
Kibbuz
Rachel: Die Salatbar
(Foto: Henryk M. Broder)
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"Vor ein paar
Monaten hatten wir eine heftige Diskussion darüber, ob man die Küche
und den Speisesaal 'privatisieren' und das Essen den Mitgliedern
berechnen soll", sagt Claudia, "am Ende gab es eine Abstimmung und
fast 90 Prozent wollten, dass alles so bleibt, wie es ist." |
Claudia, 1956 in
Stuttgart geboren, kam 1977 nach Israel und lebt seitdem in Ramat
Rachel. Sie spricht fließend hebräisch, und wenn sie deutsch redet,
schwäbelt sie noch immer.
Seit langem ein
"Chawer Kibbuz" (Vollmitglied), kann sie an allen Diskussionen und
Abstimmungen teilnehmen. "Ich wollte immer in einer Kommune leben, alle
haben das Gleiche, alle bekommen das Gleiche." Inzwischen freilich sind
auch im Kibbuz einige gleicher als gleich. "Es gibt Familien, die lassen
ihre Häuschen von rumänischen Putzmännern sauber machen."
Claudia putzt noch
selbst, obwohl sie sich auch einen Putzmann oder eine Putzfrau leisten
könnte. Sie und ihr Mann bekommen zusammen ein "Taschengeld" von 3600
Schekel (circa 900 Euro) monatlich, was einem normalen Lehrergehalt
entspricht. "Wir zahlen keine Miete, das Essen ist frei, der Kibbuz
trägt die Kosten für Wasser, Strom und die Krankenversicherung." Das
Leben im Kibbuz ist Kommunismus auf hohem Niveau, obwohl Claudia
inzwischen findet, dass "der Kommunismus gegen die Natur des Menschen
gerichtet ist".
Denn auch in
Ramat Rachel gelten die Gesetze des freien Marktes. Sogar in der
Wäscherei, die unter Claudias Kommando steht. Bis vor kurzem
schickten auch einige große Jerusalemer Hotels ihre Bettbezüge,
Tischdecken und Handtücher nach Ramat Rachel, aber seitdem kaum noch
Touristen kommen, gibt es auch nur noch wenig fremde Wäsche, die
gewaschen werden muss. |
Claudia: "Ich
kann doch nicht
aufhören zu leben." (Foto:
Henryk M. Broder)
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In der Wäscherei
arbeiten auch zwei Palästinenser, die in Tsur Baher wohnen, einem großen
Dorf gleich neben Ramat Rachel, Chalid und Mahmud. Früher haben die
Kibbuzniks in Tsur Baher eingekauft, vor allem frische Pita, heute traut
sich das keiner mehr. Die Armee hat auf halber Strecke zwischen Ramat
Rachel und Tsur Baher eine Straßensperre errichtet und kontrolliert alle
Einwohner, die morgens das Dorf verlassen und am Nachmittag von der
Arbeit heimkommen. Chalid, erzählt Claudia, habe neulich für die kurze
Strecke mit dem Auto eine Stunde gebraucht, Mahmud kam zu Fuß über die
Felder und war in fünf Minuten da.
"Man bekommt einen
anderen Blick", sagt Claudia, "wenn ich jetzt Bus fahre, gucke ich, ob
ein Araber da sitzt, wie er angezogen ist und was er macht." Auch ihre
Kinder, zwei Söhne, 18 und 16, und eine Tochter, 14, fahren jeden Tag
mit dem Bus zur Schule, quer durch die Stadt. "Ich bin froh, wenn sie
wieder daheim sind." Sie sagt sich jeden Tag: "Ich möchte nicht
hysterisch werden." Aber sie merkt, dass sie mit der Zeit abstumpft: "Es
ist nicht die normale Situation, man normalisiert sie einfach, weil man
keine Wahl hat."
Von Ramat Rachel hat
man auch einen guten Blick auf die Trabantenstadt Gilo und das Dorf Beit
Dschala im Westen. Als vor Monaten Gilo von Beit Dschala beschossen
wurde und die Armee von Gilo auf Beit Jala feuerte, da hat sie vor Angst
gezittert. Inzwischen nimmt sie nur noch wahr, wenn wieder geschossen
wird oder Kampfhubschrauber über dem Kibbuz kreisen. "Ich kann nicht
aufhören, in die Stadt zu fahren, meine Kinder zur Schule zu schicken,
mit den Hunden zu laufen. Du hörst, wie geschossen wird, du siehst die
Raketen, dann gehst du heim, setzt dich hin und isst eine Pizza. Ist das
normal?"
Nein, normal ist das
nicht und auf die Dauer bestimmt auch nicht gesund. Claudia, die
unbedingt in einer Kommune leben wollte, lebt jetzt in einer Siedlung an
der Front. Mit einem Mann, zwei Hunden und drei Kindern. Demnächst wird
die Familie ein größeres Haus beziehen, das gerade gebaut wird. Sie
fühlt sich wohl in ihrem kleinen Kibbuz. "Ich kann doch nicht aufhören
zu leben."
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Teil 1, 30.03.2002:
"Auf Wiedersehen nach dem Krieg um halb sechs"
Teil 2, 02.04.2002:
Die Bombe in der Melone
Teil 4,
07.04.2002:
Für eine Grenze mit einem Zaun
Teil 5,
08.04.2002:
Sind die Palästinenser schuld am Bau der israelischen Siedlungen?
Teil 6,
10.04.2002:
Macht, Ohnmacht, Horror, Trotz - und alle machen weiter
Teil 7,
15.04.2002:
"Lieber Gott, gib uns den Terror von gestern zurück!"
haGalil onLine 23-04-2002 |