Die israelische Situation:
Macht, Ohnmacht, Horror, Trotz - und alle machen weiter
Henryk Broders Israel Tagebuch
April 2002
Erschienen in
Spiegel Online
Am Tag der Erinnerung an den Holocaust steht das Leben in Israel für
zwei Minuten still - um dann nach den alten Mustern weiterzugehen. Die
israelische Situation, wie sie sich ihm in Jerusalem innerhalb eines
Umkreises von hundert Metern zeigt.
Wie alle
Feiertage fängt auch der "Jom HaShoa", der Tag der Erinnerung an den
Holocaust, schon am Vorabend an. Cafés und Kinos haben geschlossen,
im ersten Fernsehprogramm wird eine Feier aus der Gedenkstätte Jad
Waschem live übertragen, im Zweiten gibt es zuerst eine
Dokumentation über Kunst im Holocaust, danach einen Film über Anne
Frank. |
"Jom HaShoa":
Für zwei
Minuten wird der Alltag
unterbrochen (Foto: Henryk M.
Broder) |
Am Dienstag, genau um
zehn Uhr, heulen dann im ganzen Land die Sirenen, als stünde ein Angriff
aus der Luft bevor. Autos und Busse halten an, auch die Fußgänger
bleiben stehen. Nach zwei Minuten setzen sich alle wieder in Bewegung.
Es ist ein seltsames Zeremoniell, das sich jedes Jahr wiederholt.
Nicht nur in Europa,
auch in Israel wird der Schatten des Holocaust immer länger, völlig
unabhängig davon, was gerade passiert. Auch in Israel gibt es eine
Vergangenheit, die nicht vergehen will, obwohl die Gegenwart schrecklich
genug ist.
Täglich zu
aktualisieren:
Shabtai Gold an der Statistik
der Toten (Foto: Henryk M.
Broder) |
Gleich um die
Ecke von der Residenz des Ministerpräsidenten haben ein paar
Aktivisten der "Peace Coalition" einen Infostand aufgebaut. Auf
einer Tafel ("Blut fordert immer mehr Blut") wird die Zahl der
getöteten Palästinenser und Israelis angegeben, die Statistik wird
täglich aktualisiert. |
Gestern waren es 1154
Palästinenser und 421 Israelis, heute sind es 1254 und 434, vorläufig,
denn der Tag ist noch nicht vorbei und in Dschenin wird gekämpft.
"Wir wollen, dass
dieser Wahnsinn aufhört", sagt Shabtai Gold, der 1982 geboren wurde, dem
Jahr des Libanon-Krieges. Er studiert Computerwissenschaften und
arbeitet für B'Tselem, eine israelische Menschenrechtsorganisation.
Schon seine Eltern waren in der Friedensbewegung aktiv, haben gegen den
Vietnamkrieg und, natürlich, Scharon protestiert.
Shabtai wurde nicht
zur Armee eingezogen, sondern wegen eines Rückenproblems für untauglich
befunden. Früher wäre so etwas eine Schande gewesen, heute ist es eine
Gelegenheit, die Zeit anders zu nutzen. "Wir bereiten eine Riesendemo
für den 11. Mai vor, wir wollen über 100.000 Menschen mobilisieren."
Damit es klappt,
verteilt Raya Kalinhoff, Tochter deutscher Juden, zur Zeit des
britischen Mandats in Palästina geboren, Flugblätter und sammelt
Unterschriften. Die praktizierende Psychologin schaut kaum noch
hoch, wenn aus einem vorbeifahrenden Auto "Verräter, Abschaum, fahrt
zur Hölle!" gerufen wird. "Wir sind zurzeit nicht sehr beliebt, aber
wir machen weiter, wir haben keine Wahl." |
"Verräter,
Abschaum, fahrt zur Hölle": Friedensaktivistin Raya Kalinhoff
braucht ein dickes Fell (Foto: Henryk M. Broder) |
Nur ein paar Meter
weiter kann man eine Ruine besichtigen - was vom Café "Moment" übrig
geblieben ist. Hier hat sich vor ein paar Wochen ein
Selbstmordattentäter in die Luft gejagt und elf Menschen in den Tod
gerissen. Ausgebrannte Grablichter erinnern an die Opfer. Das Café wird
wieder aufgebaut. Inmitten der Verwüstung hängt ein Poster: "Wir weinen
und weinen und machen weiter."
Wiederaufbau
im Café Moment (Foto: Henryk M. Broder) |
So findet man in einem
Umkreis von 50 Metern alles, was die israelische Situation ausmacht: Die
schwer bewachte Residenz des Ministerpräsidenten, den Stand der "Peace
Coalition", die Überreste eines beliebten Treffs, der zur Todesfalle
wurde. Die Macht, die Ohnmacht, den Horror und den Trotz.
|
Und man muss nur
hundert Meter in die andere Richtung gehen, um vor dem amerikanischen
Konsulat eine Demonstrantin zu treffen, die ganz allein den Lauf der
Geschichte aufhalten möchte:Shoshana, vor 39 Jahren in Atlanta/Georgia
geboren, vor 23 Jahren nach Israel eingewandert, verheiratet, Mutter von
fünf Kindern ("Ich weiß, es sollten mehr sein"), hält ein Poster in die
Höhe, auf das sie eigenhändig geschrieben hat: "Bush, withdraw from
Afganistan now".
Noch eine Stimme
der Friedensbewegung? Mitnichten, Shoshana meint es anders. "Wenn
Bush uns sagt, was wir machen sollen, sage ich ihm, was er machen
soll." Die Israelis würden die Ironie verstehen, nur die
amerikanischen Wachleute, die sie von der anderen Straßenseite her
misstrauisch beäugten, seien ein wenig irritiert. Seit zwei Tagen
steht sie vor dem Konsulat, morgen wird ihr Mann, ein Fremdenführer,
der gerade arbeitslos ist, mit ihr demonstrieren. "Wir machen
weiter, es muss sein." Morgen werden auch die Leute der
Friedenskoalition ihre Statistik auf den letzten Stand bringen. |
Ironie der
besonderen
Art: "Bush, geh aus
Afghanistan raus" (Foto:
Henryk M. Broder) |
haGalil onLine 28-04-2002 |