Der Schwanz wedelt mit dem Hund
Sind die Palästinenser schuld am Bau der israelischen Siedlungen?
Henryk Broders Israel Tagebuch
April 2002
Erschienen in
Spiegel Online
Wenn Israelis über Gewalt in Nahost diskutiertem, gab es immer ein
Argument, das alle anderen vom Tisch fegte: "Im Straßenverkehr kommen
mehr Menschen ums Leben!" Warum nun alles anders ist.
Wagte man zum
Beispiel in einer Diskussion die Meinung, es sei vollkommen
idiotisch, Soldaten für den Schutz isolierter Siedlungen wie
Netzarim oder Kfar Darom im Gaza-Streifen zu opfern, kam sofort der
Satz zurück: "Auf der Straße sterben noch mehr!" So absurd das
Argument auch war, es hatte seine numerische Richtigkeit. |
Haus hinter
der Green Line:
"Arafat hat es nie ernst
gemeint." (Foto: Henryk M.
Broder) |
Bis vor kurzem. Zum
ersten Mal sind im vergangenen März bei Anschlägen mehr Menschen ums
Leben gekommen als bei Straßenunfällen. Die Terrorstatistik hat die
Verkehrsstatistik überholt. Damit mag es zusammenhängen, dass viele
Israelis den Ernst der Lage begreifen und die Frage stellen: Ab wann
ging alles schief?
Warum ist die
Euphorie, die nach dem Abkommen von Oslo alle erfasst hatte, so schnell
verpufft? "Arafat hat es nie ernst gemeint", sagt Ari "er hat mit uns
verhandelt und seinen Leuten erzählt, er macht es, um ganz Palästina zu
befreien, nicht nur Gaza und die Westbank."
"Wir haben es nie
ernst gemeint", sagt Dani, "wir haben die Palästinenser 35 Jahre lang
betrogen und belogen, sie hingehalten und ihnen erzählt, wir wollten die
Gebiete nicht annektieren, und dabei haben wir eine Siedlung nach der
anderen gebaut."
"Die Palästinenser
hätten längst ihren Staat, wenn sie dem ersten Camp-David-Abkommen
zwischen Ägypten und Israel zugestimmt hätten", sagt Jigal, "stattdessen
haben sie gejubelt, als Sadat ermordet wurde."
"Und wenn einer von
uns Jizchak Rabin nicht ermordet hätte, wären wir heute besser dran!"
ruft Gila, "dann wäre Netanjahu nie gewählt worden, der hat Oslo kaputt
gemacht!"
"Du vergisst, warum
Bibi 1996 gewählt wurde", sagt Adin, "weil es eine Serie von
Terroranschlägen gegeben hat, die Palästinenser haben dafür gesorgt,
dass er gewählt wurde."
"Niemand hat uns
gezwungen, Bibi zu wählen und niemand hat uns gezwungen, Scharon zu
wählen!", schreit Tamara, "wir sind für unsere falschen Entscheidungen
selber verantwortlich!"
Siedlung Har
Homa: Nicht nur
eine Provokation, auch ein
Monument der Hässlichkeit
(Foto: Henryk M. Broder) |
"Es wird keine
Lösung geben, wenn wir die Siedlungen nicht räumen", sagt Joram, "es
kann doch nicht sein, dass 200.000 Siedler über Krieg und Frieden
entscheiden, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt."
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"Es wird keine Lösung
geben, wenn die Palästinenser nicht ihren Anspruch auf Rückkehr
aufgeben", sagt Avram. "Sie würden es vielleicht tun, wenn wir
anerkennen würden, dass wir sie vor 54 Jahren vertrieben haben", sagt
Klara.
"Aber damals waren es
700.000, inzwischen sind es vier Millionen", sagt Dudu, "sollen wir das
Land verlassen, damit vier Millionen Palästinenser zurückkehren können?"
Es ist eine typische
israelische Debatte, über die Palästinenser - aber ohne sie. Seit 1967
haben die Israelis über eine Lösung des Konflikts am liebsten
untereinander diskutiert, ab und zu gab es einen
"israelisch-palästinensischen Dialog", dessen Teilnehmer von einer
Deutschen Stiftung, Konrad Adenauer oder Friedrich Naumann, zu
Konferenzen nach Europa geflogen wurden.
"Aber nach Oslo sah es
anders aus", sagt Gila, "wir konnten nach Betlehem, Jericho und Ramallah
fahren und die Palästinenser kamen zum Einkaufen nach Jerusalem und zum
Baden an den Strand von Tel Aviv, es gab kaum Kontrollen und keine
Überfälle."
Und sie erinnert sich,
wie sie in einem Cafe am Manger Square in Betlehem, wo heute gekämpft
wird, saß, einen Humus aß und wie Eine gemischte
israelisch-palästinensische Patrouille vorbeiging. "Sie hatten die
gleichen Uniformen an und man konnte die Israelis und die Palästinenser
nicht auseinander halten."
"Wie lange ist das
her?" fragt Joram. "Sieben, acht Jahre", antwortet Gila, "ich kann es
kaum glauben, damals hätten wir den Palästinensern ein faires Angebot
machen sollen, statt dessen haben wir weiter Siedlungen gebaut."
Har Homa zum
Beispiel, im Süden von Jerusalem, dem letzten unbebauten Hügel
zwischen dem palästinensischen Dorf Tsur Baher und Betlehem. "Stell
dir vor, du bist ein Palästinenser, du lebst in Tsur Baher und du
bekommst keine Erlaubnis, ein Haus zu bauen. |
Bau in der
Wüste: Betar Illit
(Foto: Henryk M. Broder) |
Und du siehst, wie
genau gegenüber eine neue Siedlung gebaut wird, wie würdest du dich
fühlen?" "Ich würde mich trotzdem nicht in die Luft sprengen", sagt
Dudu, "aber ich würde auch nicht nach Har Homa ziehen."
Inzwischen ist Har
Homa fast fertig gebaut, nicht nur eine unnötige Provokation, auch ein
Monument der Hässlichkeit mitten in der Wüste. Ein paar Kilometer weiter
südlich wird die Siedlung Betar Illit ausgebaut. Hier ruhen die
Bauarbeiten zurzeit, weil die palästinensischen Arbeiter aus den
umkämpften Gebieten nicht zur Arbeit kommen können. Das bringt Joram auf
einen Gedanken.
"Wenn die
Palästinenser sich geweigert hätten, die Siedlungen zu bauen, gäbe es
das Problem heute nicht." Und es geht weiter mit der Diskussion, warum
die Palästinenser dafür verantwortlich sind, dass die Israelis so viele
Siedlungen bauen konnten.
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Teil 1, 30.03.2002:
"Auf Wiedersehen nach dem Krieg um halb sechs"
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Teil 2,
02.04.2002:
Die Bombe in der Melone
Teil 3,
03.04.2002:
"Ich möchte nicht hysterisch werden"
Teil 4,
07.04.2002:
Für eine Grenze mit einem Zaun
Teil 6,
10.04.2002:
Macht, Ohnmacht, Horror, Trotz - und alle machen weiter
Teil 7,
15.04.2002:
"Lieber Gott, gib uns den Terror von gestern zurück!"
haGalil onLine 25-04-2002 |