Dokumentation eines inoffiziellen Abkommens:
Warum Scharon sich fürchtet
In der israelischen
Gesellschaft ist die Genfer Initiative äußerst zwiespältig
aufgenommen worden. Alle Israelis hoffen auf Frieden, doch viele
trauen dem Abkommen nicht. Bei einer Mehrheit dominiert die Furcht,
zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben. Daneben wird immer wieder
kritisiert, dass wesentliche Fragen, wie die künftigen
Wirtschaftsbeziehungen und die Aufteilung der Wasserrechte, nicht
geregelt sind. Doch die israelischen Verhandler können stolz auf das
Erreichte sein. Und zumindest darauf verweisen, dass es erstmals
eine detaillierte Blaupause für den erhofften "historischen
Kompromiss" gibt.
Von Amram Mitzna
Geboren 1945, Offizierslaufbahn, General. Nach dem
Abschied aus der Armee 1993 zum Bürgermeister von Haifa gewählt,
November 2002 Vorsitzender der Arbeitspartei und Gegenkandidat
Scharons bei der Ministerpräsidentenwahl im Januar 2003. Rücktritt
vom Parteivorsitz im Mai 2003.
Wenn der israelische Ministerpräsident
beschließen sollte, die Genfer Initiative zu übernehmen, wird er als
der Staatsmann in die Geschichte eingehen, dem es als Erstem
gelungen ist, dem jüdischen demokratischen Staat die Basis eines
einvernehmlichen Abkommens zu verschaffen. Das wäre ein noch
größerer Schritt als die Staatsgründung 1948, denn diese war damals
ein einseitiger Akt, der nur von wenigen Ländern der Welt anerkannt
wurde.
Die Genfer Initiative zeigt, dass es durchaus
einen Verhandlungspartner gibt und dass eine Alternative zum
Blutvergießen möglich ist. Die Angriffe Scharons und seiner Minister
gegen diese Initiative und ihre Initiatoren verraten vor allem eins:
Angst. Bisher sind alle Versuche der Regierung und der Rechten
gescheitert, die Anhänger der Genfer Initiative in Israel
einzuschüchtern.
Anfänglich versuchte Scharon, uns als Politiker im
Sold des Feindes darzustellen. Rechtsextreme Abgeordnete
beschimpften uns als Verräter. Einige forderten sogar - wenn auch
vergeblich - den Staatsanwalt auf, uns vor Gericht zu stellen. Am
13. November nahm der staatliche Rundfunk nach massivem Druck aus
der Kanzlei des Ministerpräsidenten einen Werbespot aus dem
Programm, der den Bürgern ankündigen sollte, dass der Text des
Genfer Dokuments ab Mitte November an alle Haushalte versandt wird.
Unsere Klage gegen diesen Akt politischer Zensur ist derzeit beim
Obersten Gericht anhängig.
Doch wir lassen uns weder durch Zensur noch durch
Drohungen einschüchtern. Wir verfolgen beharrlich unsere Sache,
zumal die Initiative bei immer mehr Palästinensern und Israelis auf
Zustimmung stößt - als sinnvolle Alternative zur katastrophalen
Politik der Scharon-Regierung, die sich zunehmend als Sackgasse
erweist und beiden Völkern so ungeheure Opfer aufnötigt. Dass ein
Großteil der Israelis eine Alternative sucht, zeigen nicht zuletzt
die zahlreichen Aktionen zum achten Jahrestag der Ermordung von
Jitzhak Rabin im November dieses Jahres.
Gegen die Genfer Initiative machen die Rechten und
Rechtsextremen durch Provokationen und Einschüchterungen mobil, denn
sie fürchten nichts so sehr wie den Frieden. Und vor allem fürchten
sie, dass immer mehr Israelis erkennen, wie man in den letzten drei
Jahren Schindluder mit ihnen getrieben hat.
Drei Jahre lang hat der Ministerpräsident dem Volk
erfolgreich eingeredet, auf der Gegenseite gebe es keine
Gesprächspartner, nur die Gewalt werde den Sieg bringen und die
Palästinenser brechen und nur mit den Waffen der Tsahal, der
israelischen Armee, werde es gelingen, den Feind zu besiegen.
Scharon hat unser Volk immer wieder zum Durchhalten aufgerufen, denn
nur so könne der Terror bezwungen werden.
Doch die Situation wurde ständig schlimmer. Die
Politik der Eliminierung palästinensischer Führer, die den Terror
beenden sollte, droht aufzulösen, was von diesem Land übrig
geblieben ist. Der Terror wächst, die Wirtschaft bricht zusammen,
die Gesellschaft verliert ihren Zusammenhalt, und die demografische
Entwicklung bedroht die Existenz des Staates Israels als einen
jüdischen Staat. Doch trotz alledem hält die Regierung an ihrer
politischen Linie fest.
Nach monatelanger intensiver Arbeit haben wir die
Genfer Initiative zustande gebracht. Natürlich hat niemand von uns
erwartet, ein solches Abkommen könne von heute auf morgen Gestalt
annehmen. Wir haben vielmehr um jedes Detail und um jeden Zentimeter
Land gerungen, als handele es sich um ein echtes Abkommen.
Ein Kampf ohne Uniform
Es war eine Schlacht, aber ohne Sieger und
Besiegte. Wir haben gekämpft, aber ohne Uniformen. Wir haben um
Jerusalem, um den Tempelberg und um die Siedlungen bei Gusch Etzion
gekämpft. Wir haben um die endgültigen Staatsgrenzen Israels
gerungen und sogar um die Grundlagen des Staates selbst. Die
Ergebnisse können sich sehen lassen.
Zum ersten Mal in der Geschichte haben die
Palästinenser offiziell erklärt, dass sie den Staat Israel als Staat
des jüdischen Volkes anerkennen - und das für immer. Sie haben auf
ihr Rückkehrrecht nach Israel verzichtet, womit gesichert ist, dass
unser Staat eine stabile, feste jüdische Mehrheit behalten kann. Die
Klagemauer, das jüdische Viertel und der Davidsturm bleiben in
unseren Händen. Die jüdischen Ortschaften rings um Jerusalem - Givat
Zeev, Givon (das alte und das neue), Maale Adumin, Gusch Etzion,
Neve Yaakov, Pisgat Zeev, Hagiva Atsarfatit, Ramot, Gilo und Armon
Anatsiv-, sie alle werden für immer zum Großraum Jerusalem gehören.
Kein einziger der Bewohner dieser Dörfer wird sein Haus verlassen
müssen.
Es ist ein Leichtes, die Ergebnisse zu
kritisieren. Leicht ist es auch, zu provozieren, was allerdings nur
ein Zeichen von Panik ist. Aber endlich ist klar, dass es einen
Partner für Gespräche gibt, und wenn die Regierung dazu bereit wäre,
könnte unsere Wirklichkeit schon morgen anders aussehen.
Das Problem besteht darin, dass Scharon gar keine
Einigung will. Was ihm fehlt, ist der Mut, der jeden wahren
Politiker auszeichnet, der Mut nämlich, in die Zukunft zu blicken.
Scharon entscheidet nach rein parteipolitischen Erwägungen und
unterwirft sich dem Willen der Extremisten. Der einzige "Mut", den
der Ministerpräsident und seine Regierung haben, ist der Mut zur
Lüge, zu der Behauptung, es gäbe keinen anderen Weg. Woher nehmen
sie den Mut, Soldaten in den Tod zu schicken, in einem Krieg, der
keinen Bezug zur Wirklichkeit hat?
Die Genfer Initiatoren ähneln dem kleinen Jungen,
der schreit, dass der Kaiser nackt ist. Die Regierung führt uns in
den Untergang. Ihre heftigen Reaktionen beweisen es: Sie gerät in
Panik - und das zu Recht. Denn ein Staatschef, der sein Volk in
vollem Bewusstsein in den Krieg treibt und völlig unnötiges
Blutvergießen riskiert, hat seinen Auftrag verwirkt. Das wird heute
allen klar.
Anstatt zu erklären, warum ein derartiges Abkommen
bislang nicht zustande gekommen ist, flüchtet sich Scharon wie vor
acht Jahren auf dem Zionsplatz in die Provokation, die er
hervorragend beherrscht. Die Genfer Initiative ist ein Modell, kein
offizielles Dokument zweier Regierungen. Sie ist ein Vorschlag für
eine endgültige Einigung, die beide Seiten akzeptieren können. Sie
ist in zwei Punkten bemerkenswert: Erstens verheißt sie das Ende der
Auseinandersetzungen, zweitens lässt sie keinen Punkt im Unklaren.
Alle Einzelheiten wurden bis ins Detail diskutiert und beschlossen,
ohne mögliche Ausflüchte für die betroffenen Parteien.
Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die
führenden Politiker der Autonomiebehörde und der Kämpfer vor Ort auf
eine breite Unterstützung der Initiative rechnen können. Auch die
israelische Regierung kann diese Initiative so, wie sie ist, schon
morgen übernehmen. Sie kann sie auch eingehend prüfen und in
Verhandlungen mit den Palästinensern Änderungen erwirken.
Ich hoffe sehr, dass sich die israelischen Bürger,
wenn sie das Abkommen in allen Einzelheiten kennen, nicht länger
missbrauchen oder in die Irre führen lassen. Denn wenn die Regierung
dieses Abkommen nicht übernimmt und keine andere Lösung vorschlägt,
werden wir weiter leben wie bisher, mit dem Damoklesschwert über
unseren Köpfen. Es ist an uns, endlich eine Entscheidung zu treffen.
Deutsch von Claudia Steinitz
Dokumentation eines inoffiziellen Abkommens:
Hoffnungen nach Genf
hagalil.com
16-12-2003 |