Dokumentation eines inoffiziellen Abkommens:
Hoffnungen nach Genf
Am 1. Dezember haben Jossi
Beilin und Jassir Abed Rabbo in Genf das geplante
israelisch-palästinensische Abkommen unterzeichnet - ein
inoffizielles Abkommen, das gleichwohl enorme Resonanz gefunden hat.
Ob es je umgesetzt oder Grundlage für weitere Verhandlungen wird,
ist ungewiss. Auf palästinensischer Seite wird kritisiert, die
Vereinbarung bedeute den Verzicht auf zentrale Prinzipien wie das
Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Die israelische Regierung spricht gar
von einem "subversiven Akt". Wir dokumentieren die territorialen
Übereinkünfte und Stimmen aus den Delegationen.
Von Kadura Fares
1958 geboren, Abgeordneter im
palästinensischen Nationalrat und vor kurzem zum Minister in der
neuen Regierung Kurei ernannt. Kadura Fares, Fatah-Aktivist, war
Mitglied der palästinensischen Verhandlergruppe in Genf, neben dem
Arafat-Vertrauten Abed Rabbo, dem Minister für Häftlingsfragen
Hischam Abdel Rasek, dem ehemaligen PA-Minister Nabil Kassis und dem
Fatah-Aktivisten und Tansim-Führer Mohammed Hurani. Die Beteiligten
auf israelischer Seite waren neben dem "Oslo-Architekten" Jossi
Beilin unter anderem die Knessetmitglieder Amram Mitzna und Avraham
Burg, der ehemalige Generalstabschef Amnon Lipkin-Schahak, der
Brigadegeneral i. R. Giora Inbar und die Schriftsteller David
Grossmann und Amos Oz.
Über hundert Jahre währt mittlerweile der
israelisch-palästinensische Konflikt. Er hat zehntausende Menschen
das Leben gekostet, er hat Millionen Palästinenser zu Flüchtlingen
gemacht, und er hat gigantische Ressourcen aufgebraucht, die man für
den Aufbau der ganzen Region hätte verwenden können. Es handelt sich
um einen komplexen und tiefgreifenden Konflikt, bei dem jeder
einzelne Aspekt - der nationale, der religiöse wie der historische -
für sich genommen schon genügend Brisanz enthält, um die
Streitigkeiten endlos zu verlängern.
Die israelische Besatzung ist nicht wie jede
andere: Sie beruft sich auf eine höhere, eine religiöse und
historische Rechtfertigung, die häufig dazu dient, die Normen
moralischen und humanitären Verhaltens zu missachten. Die
palästinensische Nationalbewegung wiederum befürchtet, die Besatzung
könnte sich zum dauerhaften Zustand ausweiten und damit am Ende die
Existenz des palästinensischen Volkes negieren. Deshalb rücken sie
ebenfalls religiöse und historische Argumente in den Vordergrund,
die den Kampf gegen die israelische Besatzung rechtfertigen sollen.
Je tiefer sich der Konflikt einfrisst, desto
stärker wird die Neigung bei beiden Völkern, sich hinter ihren
jeweiligen historischen und religiösen Rechtfertigungen zu
verschanzen; desto mächtiger werden auf beiden Seiten die religiösen
Bewegungen. Und in dem Maße, in dem die Menschen jede Hoffnung
verlieren, setzen sie ihre Wut in blutige Kriegshandlungen um.
Zugleich geht den Politikern auf beiden Seiten die Fähigkeit ab,
durch mutige Entscheidungen neue Hoffnungen zu wecken und die
Aussicht auf eine mögliche positive Zukunft zu eröffnen.
Ohne sich länger von den Illusionen irreleiten zu
lassen, die von den Israelis und ihren Verbündeten verbreitet
werden, kämpft das palästinensische Volk heute um die Freiheit, die
anderen Völkern längst selbstverständlich ist. Es kämpft gegen eine
Besatzung, die sich nicht von anderen unterscheidet. Die Behauptung
jedenfalls, die israelische Besetzung sei "humanitärer" oder
"zivilisierter", hält keiner vernünftigen Überprüfung stand und
zeugt nur von einer einseitigen Betrachtungsweise.
In letzter Zeit ist die Zuspitzung und Vertiefung
des Konflikts ganz offenkundig geworden, aber das hat
ironischerweise dazu geführt, dass sich bei führenden Repräsentanten
beider Lager die entscheidende Einsicht durchsetzt: In diesem
Konflikt kann es niemals einen endgültigen Sieg und nie eine
abschließende militärische Lösung geben. Die Logik, die sich damit
durchsetzt, ist die eines "Gleichgewichts des Schreckens". Setzt
sich diese Logik fort, wird es immer mehr Tote, mehr Leid, mehr Hass
geben. Umso willkommener ist in dieser Lage das Abkommen von Genf.
Und es kommt zur rechten Zeit. Das von einer Gruppe prominenter
Palästinenser und Israelis unterzeichnete Dokument eröffnet unseren
Völkern eine für beide Seiten akzeptable Alternative zur
gegenwärtigen Lage. Sicher wird keine der Seiten den gefundenen
Kompromiss als völlig gerecht empfinden; ja das Abkommen wird sogar
für geraume Zeit ein Gefühl der Ungerechtigkeit hinterlassen. Keiner
wird in Siegesfreude ausbrechen können, da man sich - wie bei jedem
auf Kompromissen beruhenden Abkommen - auf halbem Weg entgegenkommen
musste. Die moralische Basis eines solchen Abkommens ist die Suche
nach einer vernünftigen Lösung, die beide Lager in die Pflicht nimmt
- mit dem Ziel, das Morden, die Vergeltungslogik und den Hass zu
beenden.
Taba war ein Anfang
In der Geschichte des israelisch-palästinensischen
Konflikts gab es schon immer humanistische Strömungen, die sich
jenseits der alltäglichen Realität und der unmittelbaren politischen
Zwänge eine Zukunft vorstellen konnten, in der die fundamentalen
Interessen beider Völker gewahrt sein würden. Diese Zukunft würde
dem palästinensischen Volk in einem unabhängigen Staat ein blühendes
Wirtschafts-, Kultur- und Gesellschaftsleben ermöglichen, also das
Ende der langen Periode des Leidens und des Verzichts auf eigenes
Territorium bedeuten. Dem israelischen Volk würde diese Zukunft ein
Leben in Sicherheit und ohne existenzielle Bedrohung garantieren.
Und es könnte - von den Kosten der Besatzung befreit - seine Kräfte
und seine Mittel in Perspektiven und Projekte investieren, die
beiden Völkern, ja dem gesamten Nahen Osten zugute kämen.
Die Veröffentlichung des Genfer Abkommens wirft
viele Fragen auf: Warum ein solches Abkommen? Welchen Wert haben die
Unterschriften von Personen, die kein offizielles Mandat besitzen?
Solche Fragen sind verständlich und ernst zu nehmen. Viele Politiker
haben in den letzten Jahren verstärkt nach Verhandlungslösungen
gesucht, zumal diejenigen, die davon ausgehen, dass der Konflikt
nicht durch militärische Maßnahmen zu lösen ist. In den Gesprächen
von Taba im Januar 2001 schienen beide Parteien einer Lösung so nahe
wie nie zuvor. Leider kam der Gipfel zu spät. Israel stand kurz vor
den Wahlen, und der erwartete Sieger war ein glühender Gegner
jeglicher Verhandlungen mit der PLO.
Dennoch wäre es falsch, die in Taba erzielten
Fortschritte zu übergehen. Nach dem Gipfel setzte jede Seite ihre
Bemühungen fort, Rahmen und Inhalt eines auch für die Gegenseite
denkbaren Friedens abzustecken. Beide Seiten versuchten einen Text
zu formulieren, auf dessen Grundlage ein künftiges Abkommen
geschlossen werden könnte. Unmittelbar nach den Gesprächen von Taba
traf ich Jossi Beilin, den früheren Justizminister Israels, und
regte an, die Befürworter einer Verhandlungslösung sollten weiterhin
versuchen, Grundzüge eines gemeinsamen Abkommens zu entwerfen. Er
war einverstanden.
Die Eskalation der Gewalt löste bei allen, die an
eine Verhandlungslösung geglaubt hatten, Trauer und Enttäuschung
aus. Nunmehr war es dringender denn je, alle offenen Fragen auf den
Tisch zu legen und nach einer realistischen Lösung zu suchen. Aus
dieser Überlegung heraus entstand die Genfer Initiative. Der Termin
für die Unterzeichnung des Dokuments unterlag keinem politischen
Kalkül, es sei denn dem, das keine Zeit zu verlieren ist. Alle
sollten so schnell wie möglich erfahren, dass Verhandlungslösungen
möglich sind, was auch immer interessierte Kreise dagegen haben.
Die Initiative von Genf ist eine Vision; sie ist
vernünftig und basiert auf dem ehrlichen Wunsch nach einem Ende des
Konflikts. Wir haben unsere Vision Politikern, Intellektuellen und
der gesamten Öffentlichkeit unterbreitet, damit beide Völker über
ihr Schicksal selbst entscheiden können. Transparenz und
Öffentlichkeit sind in diesem Falle unverzichtbar, denn wo Politiker
in Ideologien und Vorurteilen gefangen sind, obliegt es häufig der
Bevölkerung, sich eine bessere Zukunft vorstellen zu können. Da wir
keine offizielle Institution repräsentieren, versuchten wir, den Weg
für eine ausgewogene, auf praktikable Gerechtigkeit gegründete
Lösung zu ebnen. Jetzt ist es an der Öffentlichkeit, die Politiker
davon zu überzeugen, dass Genf eine akzeptable Lösung ist. Nur so
werden diese ihre "Zwänge" überwinden.
Besondere Bedeutung hat das Genfer Abkommen, weil
es in einem sehr schwierigen, von Feindseligkeit und Misstrauen
geprägten Moment erfolgt, in dem die Perspektive einer
Zweistaatenlösung ernsthaft gefährdet ist. Denn die derzeitigen
Maßnahmen der rechten israelischen Regierung schaffen vor Ort
vollendete Tatsachen, welche die Errichtung eines palästinensischen
Staates an der Seite Israels unmöglich machen.
Der Ausbau der bestehenden sowie der Bau neuer
Siedlungen, die Errichtung der rassistischen Trennmauer (der die
palästinensischen Städte und Ortschaften in Ghettos verwandelt und
hunderte Hektar palästinensischen Boden konfisziert) und die
Kontrolle über Großjerusalem mit dem Ziel einer weiteren
Judäisierung - all diese Maßnahmen sind getragen von einem Geist,
der grundsätzlich gegen jede Versöhnung und jede auf Ausgleich
bedachte Lösung gerichtet ist.
Es blieben somit nur zwei Lösungsmöglichkeiten,
die jedoch für die breite Mehrheit der Israelis ebenso wie für
unsere israelischen Verhandlungspartner inakzeptabel sind: Die eine
wäre ein binationaler Staat, die andere, leider wahrscheinlichere,
wäre eine gegenseitige Ablehnung, die darauf pocht, dass das eigene
Existenzrecht unvereinbar ist mit dem des anderen. Diese zweite
Option wird auf beiden Seiten immerzu neue Anhänger finden, die sich
dabei auf historische, religiöse oder andere ideologische
Begründungen stützen werden. Hinzu kommt, dass sich die israelische
Regierung in einer Sicherheit wähnt, die auf militärischer
Überlegenheit beruht. Leider deutet alles darauf hin, dass dieser
Weg nur zu neuer Eskalation und weiterem Leiden führen wird.
Unter diesen Umständen war es unbedingt notwendig,
die Initiative zu ergreifen und beiden Völkern einen gangbaren,
hoffnungsvolleren Weg aus der gegenwärtig verzweifelten Lage
aufzuzeigen. Als nächsten Schritt müssen sich in beiden Lagern
legitimierte Verhandlungspartner finden, um die Initiative in ein
offizielles Abkommen zu verwandeln. Während Präsident Jassir Arafat
Dialogbereitschaft signalisiert hat, übt der israelische
Ministerpräsident scharfe Kritik an dem Abkommen und seinen
Unterzeichnern und setzt alle diplomatischen Hebel in Bewegung, um
das Projekt zu torpedieren. Ein Mitglied der Regierungskoalition
forderte sogar die Todesstrafe für die Unterzeichner.
Es ist nun Aufgabe der internationalen
Gemeinschaft, durch eine günstige Atmosphäre das Genfer Abkommen in
einen gültigen Vertrag zu überführen. Diejenigen auf internationaler
Ebene, die uns immer zu Friedensbemühungen gedrängt haben, müssen
uns jetzt bei unseren Bemühungen unterstützen, damit wir das
hochgesteckte Ziel erreichen können.
Deutsch von
Christian Hansen
hagalil.com
16-12-2003 |