Die Staatsbesuche des israelischen Ministerpräsidenten Scharon in
Frankreich und Deutschland haben die arabischen Medien zu Recht als
einen Sieg im Kampf gegen den "zionistischen Aggressor" verbucht. Denn
während die beiden europäischen Regierungen zwar auch die Palästinenser
verbal auf eine Einhaltung des Mitchell-Plans drängten, ließen sie
keinen Zweifel daran aufkommen, wem sie das absehbare Scheitern des
amerikanischen Friedensplans zur Last legen werden. Keiner der
europäischen Staaten hat bislang konkrete Schritte unternommen, den
Friedensplan praktisch zu unterstützen.
Angesichts der in Belgien anhängigen Klage gegen Scharon wegen
Völkermordes und Kriegsverbrechen im Zusammenhang der 1982 von
libanesischen Falangisten verübten Massaker in Sabra und Shatila, muß
Gerhard Schröders Erklärung zum Scharon-Besuch in Berlin, das
"Selbstbestimmungsrecht der Völker" stelle die Basis deutscher Politik
auch im Nahen Osten dar, als offene Drohung verstanden werden. Scharon
weiß nun, daß er auch in Europa längst nicht mehr als israelischer
Ministerpräsident, sondern als Personifikation eines Landes
wahrgenommen, dem als Staat jene Behandlung zu Teil wird, die Hans Mayer
einst dazu verleitete, Israel als den "Juden unter den Nationen" zu
bezeichnen und die ihren aktuellsten Ausdruck in den Erklärungen des
Bundeskanzlers gefunden hat, der auch mehr als fünfzig Jahre nach
Gründung Israels noch betonen mußte, daß Deutschland das Existenzrecht
Israels anerkenne, und der sich zugleich darüber beschwerte, daß er
"mehr als einen Rat nicht geben" könne. Der unbeliebte Scharon ist zum
Synonym für den unliebsamen Staat Israel geworden.
In dieser Gleichsetzung liegt der größte Erfolg der palästinensischen
Milizen nach zehn Monaten Intifada. In der arabischen Welt besteht
längst kein Zweifel mehr daran, daß es um Israel geht, wenn von Scharon
die Rede geht, der "nichts weiter (ist) als ein Kriegsverbrecher und ein
Terrorist, der vor ein internationales Gericht gestellt werden sollte"
("Tishrin", Syrische Tageszeitung, 10.7.01). Die daraus resultierende
Kompromißlosigkeit der Konfrontation machen sich zunehmend auch die
europäischen Staaten zu eigen. Nicht nur fordern zu jeder Gelegenheit
europäische und arabische Staaten die Entsendung internationaler
Schutztruppen, längst auch hat die EU signalisiert, daß sie bereit ist,
Übergriffe und Anschläge auf Israelis in der Westbank und im
Gazastreifen zu dulden. Während Arafats Aufruf, jeden Tag einen Siedler
zu töten, wie am 12. Juli die israelische Tageszeitung "Maariv" meldete,
unkommentiert hingenommen wurde, sucht man die Verantwortung für die
Anschläge von Hamas und Islamischem Djihad in der israelischen Politik,
die eben auf eine Schwächung der Palästinensischen Nationalverwaltung
zugunsten islamischer Terrorgruppen hinauslaufe. Der seit nunmehr neun
Monaten zu beobachtende Versuch Arafats, den Konflikt zu entgrenzen und
zu internationalisieren, trägt somit Früchte.
Längst geht es der palästinensischen Führung nicht mehr darum, Israel
mit Gewalt an den Verhandlungstisch zu bringen. "Keine politischen
Verhandlungen oder gar politischen Gespräche (sind) mit der jetzigen
israelischen Regierung möglich", erklärte der Leiter der
palästinensischen medizinischen Hilfsdienste Mustafa Barghouti, der für
seine Leistungen gerade von der Weltgesundheitsorganisation
ausgezeichnet wurde - sie müsse vielmehr "umzingelt und gestürzt"
werden. Laut jüngsten palästinensischen Umfragen votieren inzwischen
41,2 Prozent der Befragten für eine "völlige Befreiung Palästinas", was
nichts anderes bedeutet, als die Zerschlagung Israels. Gerade einmal 9
Prozent sehen in der Intifada ein politisches Druckmittel für
Verhandlungen. Diese Entwicklung geht mit einer vollständigen Kassierung
aller konkreten Lösungsvorschläge einher. Wurde in Scharm al-Sheikh noch
über die zukünftige Verfassung eines palästinensischen Staates
diskutiert, so drehen sich die Auseinandersetzungen mittlerweile einzig
noch um Fragen der praktischen Abwicklung des Kriegszustandes bzw.
darum, um welche Uhrzeit der aktuelle US-vermittelte Waffenstillstand
beginnen soll. Die Intifada ist zum Selbstzweck geworden. Längst auch
kommt von palästinensischer Seite außer Durchhalteparolen kein Vorschlag
mehr, der am Verhandlungstisch diskutiert werden könnte. Wenn die
Tatsache, daß inzwischen 62 Prozent der Palästinenser weniger als zwei
Dollar am Tag verdienen, einzig noch als Drohung, man habe eh nichts
mehr zu verlieren, gegen Israel gerichtet wird, scheint außer dem
Alles-oder-Nichts keine Lösung mehr in Sicht.
Mit der Verhärtung der Positionen geht eine Libanisierung des Konflikts
einher, die den Kriegszustand in den palästinensischen Gebieten als
gesellschaftlichen Idealzustand festschreibt. "Auf dem Schlachtfeld ist
die Koordination vorbildlich. Es gibt eine einheitliche Führung der
Intifada und mehrere Nebenkomitees, aber das ist alles auf Volksebene.
Dort sind nicht nur Fatah und Hamas vertreten, sondern auch
Institutionen der Zivilgesellschaft" (Barghouti). Die
Durchstrukturierung der palästinensischen Gesellschaft, die im zehnten
Monat der Auseinandersetzung an der Basis vollständig verarmt ist,
während die PLO ihre Abschöpfung internationaler Zuwendungen im Jahr
2000 auf geschätzte 50 Milliarden US-Dollar gegenüber den 38 Milliarden
von 1998 noch gesteigert hat, lebt von der Zuspitzung der Konfrontation.
Seit dem de-facto Inkrafttreten des Tenet-Planes hat die israelische
Armee 330 Angriffe aus palästinensischen Stellungen gezählt, bei denen
10 Israelis ums Leben kamen. Zugleich starben bei Gefechten mehr als 20
Palästinenser.
Die Strategie, "Israel von innen zu destabilisieren" (Barghouti) und
andere arabische Staaten in die militärische Eskalation hineinzuziehen,
kommt denjenigen europäischen Akteuren zupaß, die an einem stärkeren
Engagement im Nahen Osten interessiert sind. In Israel fürchtet man, daß
ohne Druck der USA auf Arafat in Kürze jenes Worst-case-Szenario
Wirklichkeit werden könnte, dessen Umsetzung militärische Hardliner seit
Monaten fordern: die Zerschlagung der palästinensischen Administration
und ihrer Milizen im Zuge einer militärischen Wiederbesetzung von
Westbank und Gazastreifen. Der Verantwortliche für eine solche Besetzung
wäre wiederum Scharon. Ein Szenario, daß der Chef des israelischen
Nachrichtendienstes, Amos Malka, im israelischen Radio so erklärte: Die
Palästinenser versuchen "uns zu zermürben, uns zu Fehlern zu verleiten,
die internationale Einmischung zu stärken, und ... die gesamte arabische
Welt mit hineinzuziehen - und all dies mit dem Ziel, den Konflikt
fortzusetzen und eskalieren zu lassen". Die palästinensische Eskalation
allerdings ist nur ein Teil des Konfliktes. Die Delegitimation Israels
betreiben längst diejenigen, die beständig Sharon mit Israel
identifizieren.