Die fetten Jahre Israels
|
|
Von MARWAN BISHARA *
* Palästinenser israelischer Staatsangehörigkeit,
Schriftsteller und Journalist, Forscher an der École des Hautes Études
en Sciences Sociales in Paris. Sein Beitrag ist ein Auszug aus seinem
soeben bei La Découverte erschienenen Buch "Palestine/Israël, la paix ou
lapartheid?".
WÄHREND der Lebensstandard der palästinensischen
Bevölkerung in den Jahren nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens
1993 deutlich gesunken ist, hat Israel von der neuen Situation umfassend
profitiert. Der jüdische Staat konnte seine internationale Stellung
stärken, Auslandsinvestitionen anziehen und neue Handelspartner
gewinnen.
Gleichzeitig gelang es ihm mit Unterstützung der
internationalen Finanzinstitutionen, die wirtschaftliche Abhängigkeit
des Westjordanlands und des Gasastreifens zu vergrößern. Dagegen hat die
zweite Intifada für Israel nicht nur politische, diplomatische und
sicherheitspolitische Konsequenzen, sie stellt auch einen erheblichen
Kostenfaktor dar: So wurden die Wachstumsprognosen für 2001 von 4,5
Prozent auf 2,5 Prozent nach unten revidiert.
Vom Friedensprozess profitierte vor allem die israelische
High-Tech-Industrie. Schon vor Beginn der Osloer Gespräche machte die
kurz zuvor privatisierte und liberalisierte israelische Wirtschaft
bedeutende Fortschritte, wobei sich die seit dreißig Jahren andauernden
US-Investitionen im zivilen und militärischen Sektor sowie die
Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten (1985) und der
Europäischen Gemeinschaft ausgesprochen positiv auswirkten. Die Jahre
des Osloer Prozesses waren für Israel in wirtschaftlicher wie in
diplomatischer Hinsicht Jahre der Prosperität.
1995 waren die israelischen Auslandsinvestitionen bereits um 46
Prozent gestiegen. Dieses Wachstum hielt drei Jahre an, bevor es im
dritten Jahr der Amtszeit von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
abrupt abbrach. Nach einem erneuten Anstieg beliefen sich die
Auslandsinvestitionen im Jahr 2000 auf 7 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Die Ausfuhr von High-Tech-Produkten nahm zwischen
1993 und 1998 um jährlich 15 Prozent zu. Die 1994 beschlossene Aufhebung
der indirekten Boykottmaßnahmen durch die arabischen Staaten(1) öffnete
Israel zahlreiche Türen. Viele multinationale Konzerne, die in den
Siebziger- und Achtzigerjahren lieber mit arabischen Staaten kooperiert
hatten, wandten sich nun Israel zu. Einige Unternehmen hatten sich schon
vorher dazu entschlossen, nachdem der US-Kongress ein Gesetz zum Schutz
Israels verabschiedet hatte, das alle Unternehmen, die sich dem
arabischen Boykott anschlossen, mit Strafe bedrohte.
So entwickelte sich Israel zu einem der zwanzig reichsten Länder der
Welt, in dem die größten multinationalen Konzerne - Intel, IBM,
Motorola, Vishay, Towers Semiconductors usw. - nach wie vor gern
investieren. Gerade diesen Investitionen ist es zu danken, dass auch die
hoch qualifizierten russischen Einwanderer Jobs fanden und sich nicht -
wie befürchtet - als finanzielle Belastung erwiesen, sondern als
wirtschaftlicher Aktivposten. Zwischen 1995 und 1999 stieg das
Bruttoinlandsprodukt (nicht inflationsbereinigt) um über 50 Prozent von
264 Milliarden auf 410 Milliarden Schekel, während die Bevölkerung im
selben Zeitraum nur um 10 Prozent wuchs.(2)
Nach Angaben der Handelskammer ging Israel während des
vierzigjährigen Boykotts durch die arabischen Länder ein Exportpotenzial
von fast 40 Milliarden Dollar verloren.(3) Mit Beendigung des Boykotts
sollte sich das ändern. Allein 1994 nahmen über zwanzig Länder
diplomatische Beziehungen zum israelischen Staat auf, weitere folgten.
In Südostasien, in Lateinamerika, im Mittleren Osten und anderswo
öffneten sich neue Märkte. Die Ausfuhr nach Asien stieg 1994 um ein
Drittel, die nach Indien um mehr als die Hälfte, die nach Thailand um
knapp 70 Prozent. China, das Israel lange Jahre boykottiert hatte,
entwickelte sich seit 1995 zu einem der größten Abnehmer der
israelischen Zivil- und Militärindustrie.
Der Begriff "Friedensdividende", der sich eigentlich auf die
Konversion von militärischen in zivile Investitionen bezieht, gewann in
Israel eine ganz neue Bedeutung. Profitiert hat von der "Konversion" in
erster Linie der Waffenhandel. Der Bereich Forschung und Entwicklung -
zuvor von den USA finanziert, für die Wirtschaft aber dennoch eine
Belastung - entwickelte sich nach Oslo zu einem florierenden
Wirtschaftssektor. Mitte der Neunzigerjahre unterzeichnete Israel mit
Russland, der Türkei, Singapur, Indien, Frankreich, der Ukraine und
Südafrika Kooperationsabkommen in den Bereichen Forschung und
Entwicklung, zivile Luftfahrt und Nachrichtendienste. Besonders
erbaulich entwickelten sich die Beziehungen zu Südafrika (wo man die
Apartheid abschaffte, während man sie in Palästina neu einführte): Die
beiden Länder unterzeichneten umfangreiche Lieferverträge über
Militärgüter.(4)
Unterdessen stieg der Anteil des Dienstleistungssektors am BIP
zwischen 1990 und 1994 um 39 Prozent. Auch die Zunahme der Einfuhren und
die staatliche Subventionierung der israelischen Zweigniederlassungen
ausländischer Unternehmen wurden allgemein als positives
Wirtschaftssignal interpretiert: Sie begünstigten langfristige
Investitionen und halfen damit, die Gesamtwirtschaft zu konsolidieren.
Das Pro-Kopf-Einkommen stieg in den Jahren 1992 bis 1995 von 12 600
Dollar auf 15 600 Dollar und wird im laufenden Jahr wahrscheinlich die
20 000-Dollar-Marke erreichen. Die Arbeitslosenquote sank trotz der
massiven Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion von 11,2 Prozent im
Jahr 1992 auf 6,9 Prozent im Jahr 1995, wobei Israel zugleich noch über
300 000 zusätzliche Arbeitskräfte aus Rumänien, Thailand und anderen
Ländern beschäftigte.(5)
Im Zuge dieses "Wirtschaftswunders" entstand eine neue Klasse hoch
qualifizierter Führungskräfte und Unternehmer, die sich weitgehend am
Weltmarkt orientieren und weniger Interesse an den besetzten Gebieten
zeigen. Diese mächtigen "neuen Reichen", die ständige Kontakte mit ihren
westlichen Partnern unterhalten, waren der Überzeugung, Israel müsse
sein geschäftsschädigendes Negativimage als Besatzerstaat loswerden.
Auch die Kleinunternehmer, die in ihren Betrieben palästinensische
Arbeitskräfte beschäftigten, hielten die Zeit für gekommen, die
wirtschaftlichen Beziehungen zu den Palästinensern auf eine langfristig
stabilere Grundlage zu stellen. Im Unterschied zu den nach Westen
blickenden Neureichen hielten sie jedoch an der Notwendigkeit fest, die
israelische Herrschaftsposition aufrechtzuerhalten.
Mit dem Friedensprozess und seinem Stabilitätsversprechen setzte sich
letztere Vision durch. Die besetzten Gebiete wurden weiter in
Abhängigkeit gehalten, und Israel ersparte sich den Albtraum, der mit
einem Rückzug aus den besetzten Gebieten für das Land verbunden wäre.
Das Wirtschaftsmodell, das der Friedensprozess den besetzten Gebieten
bescherte, wurde von der Weltbank und der internationalen
Staatengemeinschaft finanziert. Die Blaupausen hierzu entstanden in den
Expertenbüros israelischer und amerikanischer Institutionen. Zahlreiche
Studien beschäftigten sich mit den aktuellen und künftigen ökonomischen
Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern bzw. den arabischen
Ländern. Der Osloer Prozess förderte diesen Wandel, denn unter der
Devise "Gasa raus aus Tel Aviv" verlagerten zahlreiche Tel-Aviver
Unternehmen ihre Produktionsstätten in den Gasastreifen. So brauchten
die palästinensischen Billigarbeitskräfte nicht mehr jeden Tag über die
"grüne Linie", also die Grenze vom Juni 1967, einzureisen und ließen
sich von den zahlreichen legalen und illegalen Zulieferbetrieben, die
die Nachfrage des israelischen Markts bedienen, nun im Gasastreifen und
im Westjordanland ausbeuten.
Das israelische Projekt sah eine palästinensische Wirtschaft in
völliger Abhängigkeit von Israel vor, wobei unabhängige palästinensische
Unternehmen möglichst auszuschalten wären. Nach dem Vorbild der
maquiladores
entlang der Grenze USA/Mexiko regte der israelische Ökonom Ezra Sadan
den Aufbau so genannter Industrieparks an. Inmitten der unter Armut und
Unterentwicklung leidenden palästinensischen Bevölkerung sollten
Gewerbegebiete mit Zulieferbetrieben entstehen, die als Inseln in einem
Meer von Armut von vornherein kostengünstiger produzieren und flexibler
auf den israelischen Bedarf reagieren könnten. Vorbild dieses Projekts
war das südafrikanische Modell der so genannten Wachstumspunkte
(growth points). Um es langfristig auf eine sichere Grundlage zu
stellen, fehlte nur noch eine palästinensische Selbstverwaltungsbehörde.
Nur eine legitime Volksvertretung konnte den Übergang in die neue
Abhängigkeit abfedern und einer abermaligen Intifada vorbeugen, die das
wirtschaftliche Umfeld beeinträchtigt hätte.
Mit diesem Mandat, die Grenzen zwischen dem Staat Israel und den
Palästinensern im Dienst der freien Marktwirtschaft zu öffnen, sah sich
die PLO betraut, die den Auftrag mit Begeisterung übernahm. Festzuhalten
bleibt dabei, dass die meisten Palästinenser, die die katastrophalen
wirtschaftlichen Folgen dieser Politik in den Folgejahren kritisierten,
allein den Osloer Prozess und die Palästinensische Autonomiebehörde als
Verantwortliche ausmachten, ihrem Führer Jassir Arafat aber weiterhin
die Treue hielten.(6)
Nicht wenige palästinensische Experten und Berater haben an der
Realisierung der israelischen Pläne mitgewirkt. Ohne sich um die
Ausgewogenheit und Gerechtigkeit des Friedensprozesses zu kümmern,
mauserten sie sich zu einer neuen Klasse von Friedensgewinnlern, die aus
der israelisch dominierten und unter der Schirmherrschaft von Weltbank
und EU florierenden Friedensökonomie ihren Profit schlugen und als "very
important persons" weitgehende Bewegungsfreiheit genossen.
Daneben entstand ein neues Netz aus Sicherheitsverantwortlichen,
Beamten und Geschäftsleuten, die mit den Israelis Geschäfte machten,
billige Arbeitskräfte vermittelten und exklusive Kontakte zu den
internationalen Finanzinstitutionen pflegten. Nur wenige dieser
Profiteure investierten in produktive Projekte; die meisten betätigten
sich nur als Vermittler zwischen israelischer Industrie und den
überwiegend armen palästinensischen Arbeitskräften und Verbrauchern.
Die amerikanischen und europäischen Fördergelder für
israelisch-palästinensische "Kooperationsprojekte" konsolidierten die
Geschäftsnetze der Friedensgewinnler, brachten die Palästinenser aber
der ersehnten (teilweisen) Unabhängigkeit keinen Schritt näher. Die
US-Organisation "Builders for Peace" unter Leitung des ehemaligen
Vizepräsidenten Al Gore und der Europa-Mittelmeer-Ausschuss
unterstützten vor allem israelisch-palästinensische Joint Ventures, die
die Abhängigkeit der Palästinenser von Israel verstärkten. Die
palästinensischen wie die israelischen Vermittler, die diesen Ansatz
favorisierten, waren allein auf ihren kurzfristigen Gewinn bedacht und
verschwendeten keinen Gedanken an die Konsequenzen einer fortdauernden
Abhängigkeit vom Staat Israel.
Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, dass die Korruption
unter den Nutznießern dieses Herr-Knecht-Verhältnisses prächtig gedeiht.
Sosehr die VIPs ihre Herren bedienen mussten, sosehr mussten sie darauf
bedacht sein, die Bedürfnisse ihrer Opfer zumindest ansatzweise zu
befriedigen, damit diese ihren Herren auch weiterhin zu Diensten sein
konnten. Doch je mehr sich die Situation in Palästina verschlimmerte,
umso stärker wurde der Druck Israels auf seine willfährigen Helfer. Die
Korruption wurde so zum unvermeidlichen Resultat des Osloer
Friedensprozesses.
dt. Bodo Schulze
Fußnoten:
(1 )Die arabischen Staaten boykottierten
nicht nur Israel, sondern auch ausländische Unternehmen, die mit Israel
zusammenarbeiteten, sowie deren Partnerunternehmen.
(2) Emma C. Murphy, "The Arab-Israeli Peace
Process: Responding to the Economic Globalization",
Critique,
Herbst 1996, S. 80 f. Vgl. Country Report, Economist Intelligence Unit,
London, August 2000, S. 6.
(3) Alan Ritzky, "Peace in the Middle East: what
does it really mean for Israeli business",
Columbia Journal of World Business 30 (3),
Herbst 1995, S. 28.
(4) Defense News,
25. Juli 1994.
(5) Emma C. Murphy, a. a. O., S. 77.
(6) Das ergab eine Umfrage der Universität Bir
Zeit, "Priorities under a Palestinian State", 2000.
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
|