Der kurze Atem
Nissim Calderon im Gespräch
Israel leidet unter der Auflösung der Zivilgesellschaft,
nicht erst seit Scharons Wahlsieg. Der Autor entwirft das düstere Bild
eines zerrissenen Volkes
Nissim Calderon, 53, lehrt Literatur und Film an der
Universität Tel Aviv. Er hat soeben die in Israel viel diskutierte
Studie "Pluralisten wider Willen - das multikulturelle Israel"
veröffentlicht und ist Mitglied der linksliberalen Meretz-Partei. 1998
war er Jurymitglied der Berlinale. Calderon ist ein weltlicher,
sephardischer Jude. Sein Vater stammt aus Bulgarien, seine Mutter aus
Griechenland.
Wird ein Ministerpräsident Scharon die
Verhandlungen mit den Palästinensern an dem Punkt fortsetzen müssen, an
dem Barak sie beendet hat?
Auf jeden Fall. Wenn Scharon den Palästinensern 40
Prozent der Westbank anbietet, zeigt das nur, dass er gar keine
Friedensverhandlungen will. Ein Abkommen, in dem Israel weniger als 90
Prozent zurückgibt, ist unmöglich, jetzt wie in 100 Jahren.
Was sind denn Scharons tatsächliche Ziele?
Er wird die Palästinensergebiete nicht zurückerobern
und die Intifada nicht zerschlagen können. Er möchte gerne einen
Waffenstillstand erreichen, ohne einen politischen Preis dafür zu
zahlen, und er will die palästinensische Führung zu Fall bringen. Die
Welt soll die Palästinenser mit der Hisbollah, der Bin-Ladn-Gruppe oder
Saddam Hussein gleichsetzen und somit ihre politischen Forderungen nicht
mehr unterstützt. Scharon wird versuchen, den Konflikt auf kleiner
Flamme zu halten. Schon am ersten Tag nach seinem Sieg hat er
geschworen, Jerusalem nicht zu teilen. Er wird aber versuchen, einen
Deal mit Syrien auszuhandeln und ihnen fast die gesamten Golanhöhen
anbieten. Aber wird Syrien nach dieser Intifada noch in der Lage sein,
ein Friedensabkommen ohne die Palästinenser zu schließen?
Viele Siedler befürchten jetzt, dass gerade ihr
politischer Mentor Scharon Dutzende von Siedlungen räumen lassen wird,
weil er politisch stark genug ist und bereits 1982 die Siedler aus dem
Sinai evakuieren ließ.
Wenn er die Siedlungen wirklich evakuieren lässt,
werden ihn seine rechten Koalitionspartner stürzen. Also wird er
höchstens drei Siedlungen räumen lassen - um die übrigen Siedlungen zu
stärken. Scharon glaubt nicht daran, dass Juden und Araber je friedlich
miteinander leben können.
Ist eine große Koalition mit der Arbeitspartei
und radikalen Politikern wie Liberman und Zeevi unvermeidlich?
Scharon ist erschrocken, dass er ein internationales
Image nach Art von Milosevic hat, als Verantwortlicher für die früheren
Massaker in Sabra und Schatila. Er ist sehr daran interessiert, dass ihm
die Arbeitspartei eine Legitimation gibt. Und die Mehrheit der
Arbeitspartei wird sie ihm geben, auch mit Liberman und Zeevi, weil sie
ein zerfallendes und orientierungsloses Gebilde ist, das nichts mit sich
anzufangen weiß. Entweder wird sich die Arbeitspartei spalten, oder sie
wird zerfallen.
In Ihrem neuen Buch zeichnen Sie ein düsteres
Bild der zerrissenen israelischen Gesellschaft. Sie zerfällt in fünf
Gruppen: die orientalischen Juden, die europäischen Juden, die
russischen Einwanderer, die orthodoxen Juden und die Araber. Aber
Scharons erdrutschartiger Sieg widerspricht Ihrer Theorie. Haben sich
nicht die Israelis doch gemeinsam hinter Scharon gestellt?
Erstens fanden diese Wahlen gerade aufgrund der
Spaltung der Gesellschaft statt, denn Baraks ehemalige Partner - die
orientalischen Orthodoxen, die Nationalreligiösen, die Russen und die
(israelischen) Araber - haben ihn gestürzt. Zweitens hat die
Al-Aksa-Intifada die Israelis zeitweise geeint, aber nur weil sie sich
bedroht fühlen. Die Spaltung der Gesellschaft bleibt bestehen.
Scharon unterstützt eine Wahlrechtsreform. Wird
dies das politische System und die Regierung stabilisieren?
Die israelische Demokratie ist bedroht, weil immer
weniger Israelis an ihr Parteiensystem glauben, wie die niedrigste
Wahlbeteiligung seit der Staatsgründung beweist. Eine Reform des
Wahlsystems ist notwendig, und Scharon befürwortet die Abschaffung der
Direktwahl des Ministerpräsidenten, die die Zersplitterung der
Parteilandschaft noch verstärkt hat. Jeder Israeli stimmt zur Zeit
einmal für den Regierungschef (mit der Direktstimme) und einmal gegen
ihn (mit der Zweitstimme). Wir haben das US-Wahlsystem adaptiert -
allerdings ohne die amerikanischen "Bremsen" wie den Vize-Präsidenten,
einen starken Kongress und eine zivile Gesellschaft.
Auch der jahrzehntelange Konflikt mit den
Palästinensern hat zur Auflösung der Zivilgesellschaft beigetragen.
Ja, wir wurden alle zu "Gefängnisaufsehern", und wir
beschäftigen uns ausschließlich mit der Besatzung. Alle Etatüberschüsse
werden entweder für die Sicherheit oder die Siedlungen ausgegeben, so
dass die Regierung die Bereiche Erziehung, Gesundheit und Soziales
völlig vernachlässigt und dem freien Markt überlassen hat. Das ist ein
Grund dafür, dass die Kluft zwischen Arm und Reich mittlerweile die
zweitgrößte in der westlichen Welt ist, nach den USA.
Gibt es noch andere Gründe für die soziale
Spaltung der Gesellschaft?
Ja, der Zusammenbruch der Arbeiterbewegung, die die
zionistischen Institutionen von 1921 bis 1977 regierte und sie auf eine
soziale Basis stellte. Diese Bewegung hat alle ihre sozialen Instrumente
wie die Kibbutzim, die Krankenkasse, die Bank oder die Buch- und
Zeitungsverlage und andere eigene Firmen an Privatinvestoren verkauft
und jeden Einfluss auf die Gesellschaft verloren. Der Likudblock hat
zwar auch eine radikale kapitalistische Wirtschaftspolitik aus dem Geist
Milton Friedmans betrieben; aber da seine Wähler zu den unteren
Schichten gehören, investierte Likud medienwirksam auch in soziale
Projekte und setzte, anders als die Arbeitspartei, auch auf
orientalische Politiker wie David Levi oder Moshe Katsav (der amtierende
Staatspräsident). Levi war von der Arbeitspartei zum Likud gewechselt,
weil er dort keine Aufstiegschancen hatte. Wir sind zwar eine relativ
wohlhabende Gesellschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt von jährlich 17
000 Dollar pro Kopf, aber gleichzeitig bezahlt die Hälfte der
Angestellten keine Einkommenssteuer, weil sie zu wenig verdient. Die
ärmsten Schichten sind übrigens die Araber und die Orthodoxen. Weil jede
Bevölkerungsgruppe mit den eigenen Problemen beschäftigt ist,
interessiert sie sich nich für die nationalen Interessen wie zum
Beispiel für den Frieden. Die Zersplitterung der Gesellschaft behindert
den Friedensprozess.
Gilt diese These auch für die Palästinenser?
Aber ja. Während die erste Intifada die
palästinensische Zivilgesellschaft ermöglichte, zerstört die neue
Intifada sie wieder. Die Palästinenser haben das Vertrauen in ihre
politische Führung verloren, sie lassen sich von wenigen gewalttätigen
Jugendlichen anführen. In den Autonomiegebieten herrscht politische
Anarchie. Nicht einmal Jassir Arafat kontrolliert die Lage; ohne eine
Lösung des Flüchtlingsproblems werden die eigenen Leute ihm nicht
erlauben, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Außerdem leiden die
Palästinenser so sehr, dass sie längst den Sinn für die Realität
verloren haben. Ihre Forderung nach Rückkehr der palästinensischen
Flüchtlinge in den Staat Israel ist reine Fantasie wie auch die unsere,
ein Friedensabkommen ohne die Rückgabe der Gebiete und Ostjerusalems zu
erreichen. Beides wird an den Felsen der Realität zerschellen.
Warum fühlen sich die Israelis überhaupt so
bedroht?
Wir Israelis sind eine Gesellschaft von Einwanderern
mit kurzem Atem, ungeduldig, fieberhaft, verängstigt und mit großen
Traumata. Der Friedensprozess verlangt jedoch einen langen Atem. Die
Al-Aksa-Intifada bedroht unsere Existenz zwar nicht, hat aber unsere
historischen Verfolgungsängste geschürt. Das brutale Lynchen der zwei
israelischen Soldaten hat unseren Nationalstolz tief verletzt. Die
palästinensische Forderung nach der Rückkehr der Flüchtlinge hat unsere
tiefsten Ängste berührt und zeigt, dass die andere Seite unsere Tabus
nicht respektiert.
Sie waren Mitglied des Ausschusses "Vision 2020",
der von der Barak-Regierung ins Leben gerufen wurde. Wie kann die
israelische Gesellschaft gestärkt werden? Welche Vorschläge hat dieses
Gremium gemacht?
Erstens, den extrem niedrigen Kulturetat wenigstens auf
1 Prozent des Haushalts erhöhen. Zweitens, bei der Verteilung der Mittel
alle gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigen. Drittens, den Arabern
kulturelle Autonomie gewährleisten.
Sie haben häufig an israelisch-arabischen
Konferenzen teilgenommen und waren Gastredner des Akademischen Zentrums
in Kairo. Warum wehren sich ausgerechnet die Intellektuellen in der
arabischen Welt gegen die Anerkennung Israels?
Weil die Eliten einen Pakt mit dem amerikanischen Geld
geschlossen haben, die meisten Araber aber in Armut leben, verbinden
arabische Intellektuelle die Idee des Friedens mit Israel mit der
Kapitulation vor Amerika und dem eigenen undemokratischen Regime. Es ist
eine Tragödie. Nur wenige Intellektuelle in der arabischen Welt
akzeptieren Israel, wie zum Beispiel der verstorbene Lutfi al Chuli, der
die kleine ägyptische Friedensbewegung gegründet hat.
Sie sind auch Vorstandsmitglied des israelischen
Forums für Mediterrane Kultur. Warum fördern Sie gerade Israels
Integration in den Mittelmeerraum?
Weil diese Region eine pluralistische Tradition hat,
die ich in der israelischen Kultur verankern will. Zur Zeit besteht
diese Debatte vor allem aus Gerede, aber ich träume von Verbindungen zu
Spanien, Italien und Frankreich als Gegengewicht zu Peres' Vision des
"neuen Nahen Ostens". Aufgrund der enormen wirtschaftlichen Unterschiede
werden uns die Araber in absehbarer Zeit als Wirtschaftskolonialisten
fürchten. Daher sollten wir engere Verbindungen zu den europäischen
Mittelmeerländern suchen.
Das Gespräch führte Igal Avidan
Der Tagesspiegel, 26. Februar 2001
haGalil onLine
11-11-2001 |