Mit Gewalt an der Macht
Aus purem Eigennutz provoziert Israels Premier Scharon immer weitere
Anschläge
Von Thorsten Schmitz
(SZ vom 19.1.2002) - Die Zeit zwischen dem 16. Dezember
und dem 8. Januar wird in Israel als „Flaute“ bezeichnet: Ein Israeli
wurde in diesen drei Wochen von Palästinensern umgebracht. Dass im
selben Zeitraum 18Palästinenser von israelischen Soldaten getötet wurden
und man dennoch von einer Flaute sprach, zeigt, dass der Begriff der
Waffenruhe Ansichtssache ist – und dass in Israel palästinensische und
israelische Menschenleben sehr unterschiedlich gewichtet werden.
Am 16. Dezember hatte Palästinenserpräsident Jassir Arafat
sein Volk zu einem Stopp der Waffengewalt aufgefordert. Dieser Schritt
kam nur durch den vereinten Druck von USA und EU zustande, denn lieber
windet sich Arafat wie ein Aal und lässt die Intifada geschehen. Ohnehin
muss man fragen, ob diese Intifada noch ein Volksaufstand ist.
Tatsächlich haben längst professionell organisierte Terrorgruppen den
Kampf gegen Israel übernommen. Die Spontanität der ersten Intifada von
1987 bis 1993 ist bei der zweiten kaum noch auszumachen. Steine werfende
Kinder und demonstrierende Frauen und Männer sieht man schon lange nicht
mehr in Gaza und im Westjordanland.
Vielmehr ist die Intifada zu einem Guerrillakampf von Aktivisten der
Hamas, des Islamischen Dschihad und der Al-Aksa-Brigaden mutiert. Als
Vorbild dient ihnen der Abnutzungskrieg im Süden des Libanons. Was der
Hisbollah dort gelungen ist – die israelische Armee zum Rückzug aus der
Sicherheitszone zu bewegen – wollen auch die Terroristen in Gaza und im
Westjordanland schaffen.
Zur Libanonisierung der Intifada hat maßgeblich Israels Regierungschef
Ariel Scharon beigetragen: Er bedient sich des Mittels seiner Gegner,
der Gewalt, und lässt politische Lösungsansätze vermissen. Scharon ist
bestrebt, den letzten Kampf gegen den verhassten Arafat zu gewinnen.
Verfügte der Premier über einen politischen Plan, würde er ihn
publizieren statt mutmaßliche palästinensische Terroristen liquidieren
zu lassen.
Scharon braucht die Gewalt der Palästinenser zur eigenen Machtsicherung –
eine bittere Erkenntnis. Weshalb sonst lässt er nach drei Wochen
relativer Waffenruhe einen Aktivisten von Arafats Fatah-Organisation
liquidieren? Zur Genüge ist inzwischen bekannt, dass die gezielte Tötung
palästinensischer Verdächtiger nur zu neuen Terroranschlägen führt.
Die Annahme der israelischen Regierung, die Tötungen würden Terroristen
von der Planung und Ausführung ihrer Attentate abhalten, weil sie damit
beschäftigt seien, sich vor den israelischen Raketen und Scharfschützen
zu verstecken, ist falsch. Die Palästinenser haben nichts zu verlieren.
Der Generalsekretär der Fatah im Westjordanland, Marwan Barghuti, der
selbst auf der israelischen Todesliste steht, sagt: „Wenn wir
Palästinenser gezwungen werden, während der Besatzung mit Israel über
ein Ende der Besatzung zu verhandeln, muss Israel akzeptieren, dass wir
uns während der Verhandlungen gegen die Besatzung wehren.“
Getrieben von seiner Verachtung für Arafat setzt Ariel Scharon das
israelische Volk einer großen Gefahr aus: Anschläge wie der von
Donnerstagnacht, bei dem sechs Israelis getötet wurden, werden von den
palästinensischen Terroristen damit „gerechtfertigt“, Israel habe einen
der ihren liquidiert.
Es habe damit seine Repressionspolitik fortgesetzt, auch wenn es diese als
Terrorismusbekämpfung zu verkaufen suche. In diesem Fall war es Raed
Karmi, der Fatah-Aktivist, der nach der dreiwöchigen Waffenruhe von
Israel liquidiert worden war.
Scharon ist eine Gefahr für sein eigenes Volk: Er setzt es Anschlägen aus,
die durch seine Strategie provoziert worden sind. Diese Strategie heizt
absichtsvoll palästinensischen Terrorismus an, damit Scharon keine
politischen Verhandlungen führen muss. Amerika und Europa müssten nun
mit derselben Vehemenz, mit der sie Arafat in die Ecke drängten, Druck
auf Scharon ausüben und politische Konzessionen von ihm einfordern.
haGalil onLine 20-01-2002 |