Israels zerklüftete Parteienlandschaft:
Die große Macht der Kleinen
In der Knesset sind fast 20Gruppierungen
vertreten – Parteien wie die religiöse Schas werden dadurch zum Zünglein
an der Waage
Von
Thorsten
Schmitz
Jerusalem –
Die israelische Parteienlandschaft ist so schwer durchschaubar und
unübersichtlich wie die israelische Gesellschaft selbst. Ebensowenig wie
es den typischen Israeli gibt, gibt es die typische israelische Partei.
Die Programme überlappen sich. Die israelische Gesellschaft ist
pluralistisch, in ihr leben Menschen aus mehr als 140 Nationen. Es gibt
religiöse und säkulare, also weltliche jüdische Israelis, sie stammen
aus Westeuropa oder aus dem früheren Ostblock, aus Äthiopien und aus
Kanada, aus Südamerika oder aus Südafrika. Zu den fünf Millionen Juden
kommen eine Million Araber, Christen und Muslime und Drusen, die einen
israelischen Pass besitzen und laut Gesetz dieselben Rechte wie die
jüdischen Israelis.
Das Parteienspektrum spiegelt diese
Identitäten wider. Für jede Gruppe gibt es eine Interessenvertretung.
Russen wählen vornehmlich „Israel, unser Haus“ oder „Israel b’Alija“ der
russischen Dissidenten Nathan Scharansky und Avigdor Lieberman. Jüdische
Siedler votieren für die „National-Religiöse Partei“, Gewerkschafter für
die „Am Echad“. Sozialdemokraten, Sozialisten und andere Linke, die von
der Arbeitspartei enttäuscht sind, da sie der rechts- religiösen
Koalition Scharons beigetreten ist, stimmen für die links-liberale
„Meretz“-Partei des Oppositionsführers Jossi Sarid. Und israelische
Araber, also Palästinenser mit israelischem Pass, geben ihre Stimme
einer von insgesamt fünf arabischen Parteien, die zum Teil nur mit einem
Abgeordneten im Parlament vertreten sind.
Lähmende Toleranz
Der derzeitigen
15.
Knesset gehören 19 Parteien an, zur Wahl hatten sich 26
gestellt. Der Rekord wurde im Mai 1999 gebrochen, als sich insgesamt 36
Parteien zur Wahl stellten, so viele wie nie zuvor. In Israel ist es
verglichen mit anderen demokratischen Ländern sehr einfach, eine Partei
zur Wahl aufzustellen: Man benötigt lediglich 50.000 Unterschriften und
eine Liste mit fünf möglichen Kandidaten. Anschließend muss nur noch die
1,5- Prozent-Hürde bewältigt werden – und schon sitzt eine Partei als
Fraktion in der Knesset, dem 120-köpfigen israelischen Parlament in
Jerusalem.
Die Parteienvielfalt ist einerseits Symbol
für die einzige Demokratie im Nahen Osten – andererseits lähmt die
politische Toleranz das tägliche Regierungsgeschäft. Kleine Parteien
werden so zum Zünglein an der Waage und haben überproportionalen
Einfluss aufs Regieren, während die Macht der zwei großen Parteien
„Awoda“ (Arbeitspartei) und des rechts-nationalen „Likud“ schwindet. Wie
abhängig die Traditionsparteien „Awoda“ und „Likud“ von den kleineren
Parteien sind, lässt sich an der ultra-orthodoxen
Schas-Partei ablesen. Die erst Anfang der achtziger Jahre
gegründete Partei, die derzeit über 17 Sitze im Abgeordnetenhaus
verfügt, ist seit drei Legislaturperioden zum Premierminister-Macher
avanciert.
Ohne Schas funktioniert keine Regierung:
Ehud Baraks Amtszeit wurde vorzeitig beendet, weil Schas nicht bereit
war, die Konzessionen Baraks auf dem Camp-David-Gipfel im Sommer 2000
mitzutragen. Der Rückzug führte letztlich zu Neuwahlen. Baraks Vorgänger
Benjamin Netanjahu war es nicht anders ergangen. Er wollte sich von
Schas nicht erpressen lassen, deren weltfremdes Erziehungssystem mit
noch mehr Geld zu finanzieren, weshalb die Fraktion ihren Austritt aus
der Koalition erklärte. Auch Premier Ariel Scharon, der für seine
Koalition der Nationalen Einheit nicht auf die 17 religiösen
Abgeordneten verzichten wollte, muss nun sehen, wie er ohne sie
auskommt. Zwar verfügt er noch über eine Mehrheit im Parlament,
voraussichtlich allerdings nur noch über eine hauchzarte von zwei
Stimmen. Für Schas sind die Entlassungen ihrer Minister durch Scharon
eine Art PR in eigener Sache.
Ohnehin sammelt Schas Anhänger und Stimmen
mit dem Vorwurf an das europäisch-aschkenasisch geprägte politische
Establishment, die sephardischen, also die aus arabischen Staaten
stammenden Juden, die von Schas vertreten werden, würden diskriminiert
und benachteiligt. Schas stellt sich in der Öffentlichkeit stets als
Opfer eines Ressentiments dar, dabei schürt sie selbst gefühlsmäßige
Abneigungen zum eigenen Machterhalt. Die Partei gibt sich ein
Außenseiter-Image und befindet sich doch stets im Zentrum der Macht.
Die israelische Parteienlandschaft lässt
sich grob in vier Lager einteilen:
-- in das linke der „Tauben“, die die Formel „Land für Frieden“
unterstützen und Gebietsabtretungen an die Palästinenser billigen,
-- in das rechte der „Falken“, die gegen die „Land für Frieden“-Formel
opponieren und mit den Religiösen und den Ultra-Orthodoxen kooperieren,
-- in das der Orthodoxen
-- und das der israelischen Araber.
„Falken“ und „Tauben“ unterscheiden sich
auch in ihrer Haltung gegenüber den eine Million israelischen Arabern.
Die Tauben favorisieren eine liberal-egalitäre Politik mit dem Ziel,
diese Menschen in die israelisch-jüdische Gesellschaft zu integrieren
und ihnen die gleichen Rechte zuzugestehen. Dagegen verfolgen die Falken
eine Politik, die die arabischen Israelis vom Zentrum der israelischen
Gesellschaft, von Ökonomie und Politik fern halten will.
In manchen Knesset-Debatten, besonders seit
Beginn der Intifada, liefern sich arabische und jüdische
Parlamentsabgeordnete rechter und religiöser Parteien derart heftige
Wortgefechte, dass manche Schimpfwörter auf einen Index gestellt wurden.
Während die Wähler der Arbeitspartei vornehmlich aus der gebildeten,
aschkenasischen Mittelschicht stammen, wählen weniger gut situierte
Israelis eher den rechten Likud (hebräisch für „Einheit“), der sich
entschieden zionistisch gibt.
Eine weitere große gesellschaftliche
Strömung sucht ihr Wohl und Wehe in den religiösen Parteien, derzeit
sind vier von ihnen in der Knesset vertreten: die Schas-Partei, die
National-Religiöse Partei, die Nationale Union sowie die Vereinigte
Torah. Etwa 30 Prozent der Israelis sind tief religiös in dem Sinne,
dass sie eine streng religiöse Lebensweise einhalten, ihre Kinder in
religiöse Schulen schicken und hauptsächlich in religiös homogenen
Stadtvierteln wohnen. Diese orthodoxen und ultra-orthodoxen israelischen
Juden sähen Israel gerne als einen jüdischen Staat, in dem die Torah
(die fünf Bücher Moses) die Staatsverfassung bildeten und die religiösen
Vorschriften Grundlage staatlicher Gesetze wären.
Fünf Bücher als höchstes Gesetz
Ihr Einfluss auf die Gesetzgebung ist hoch
– im Vergleich zu dem 70-prozentigen Anteil weltlicher Israelis. So ist
es etwa ihren Lebensvorstellungen zuzuschreiben, dass am einzigen
jüdischen Ruhetag, dem Sabbat, keine öffentlichen Verkehrsmittel
verkehren und auch die staatliche Fluglinie El Al zwischen Freitagabend
nach Sonnenuntergang bis Samstagabend nach Sonnenuntergang nicht fliegen
darf.
Israel hat weder eine geschriebene noch
eine ungeschriebene Verfassung, weil die orthodoxen Parteien dagegen
opponieren. Sie betrachten die fünf Bücher Moses als höchstes Gesetz.
Die religiösen Parteien in der Knesset verfügen über keine politische
Agenda in Bezug auf einen Ausgleich zwischen Israel und den
Palästinensern, Stellungnahmen zu konkreten politischen Situationen sind
rar. Vielmehr widmen sich die Parteien Fragen der Finanzierung ihres
Schulsystems oder der Verkürzung der Sommerzeit und versuchen zu
erreichen, dass ein Sattelschlepper samstags keine Tunnel-Teile
transportieren darf. In diesem Fall wurde ein Kompromiss erzielt: Der
Fahrer des Sattelschleppers war ein nicht-jüdischer Russe.
Die religiösen Parteien sind insofern
politisch, als sie als Stimme der Siedler in Westjordanland und im
Gaza-Streifen gelten. Ihrem Einfluss ist es auch zu verdanken, dass
Genehmigungen für den Ausbau bereits bestehender Siedlungen in relativ
kurzer Zeit erfolgen.
Das vierte Lager wird von den arabischen
Parteien repräsentiert, darunter von dem Politiker Azmi Bischara, der
zum Missfallen seiner Knesset- Kollegen explizit anti-israelische
Positionen vertritt. Gegen Bischara wird ermittelt, weil er vor wenigen
Monaten in Damaskus die Palästinenser zur Fortsetzung ihres bewaffneten
Kampfes aufgefordert hat. Dieser Aufruf löste zugleich eine Debatte in
Israel aus, wo die Loyalität von Abgeordneten beginnt – und wo sie
endet.
Robin Hood im
Zentrum der Macht
Die israelische Schas-Partei sieht sich als Anwalt der
sephardischen Juden – und bestimmt zugleich Wohl und Wehe der
Regierung...
SZ vom 23.05.2002 / Ressort: Themen aus dem
Ausland
Anmerkung: Die Schas-Partei ist inzwischen
in die Regierungskoalition zurückgekehrt. Die Minister nehmen ihre
früheren Ämter wieder wahr.
haGalil onLine 17-06-2002 |