I S R A E L
Was es heißt,
heute Israeli zu sein
Der Traum vom
Frieden ist zerstört. Ein Wunder nicht in Sicht. Die Juden aber werden
bleiben und in nachtschwarzer Finsternis auf ein Fünkchen Licht warten
Von Yoram Kaniuk
Bevor ich mich in der vergangenen Woche
nach Berlin aufmachte, um an einem Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung
teilzunehmen, hörte ich mir Verdis Requiem an, dargeboten von
einem Prager Chor. Der ursprünglich vorgesehene Dirigent hatte Angst,
nach Israel zu kommen, und sagte wie zwei seiner Solisten den Auftritt
ab. Es fand sich Ersatz, und der riesige Saal war bis auf den letzten
Platz gefüllt.
Am Morgen desselben Tages war ein elf
Monate altes Mädchen durch einen arabischen Scharfschützen tödlich
verwundet worden. Der Vater des Mädchens gab im Fernsehen ein Interview
und sagte, er werde hier bleiben, und in seinen Augen blitzte biblischer
Fanatismus auf. Der Interviewer fragte, warum die Siedler ihre Kinder
nicht in Sicherheit brächten. Der Vater erwiderte mit bitterem Lächeln,
im Lande Israel werde niemand evakuiert. Man hielt ihm vor, während des
Unabhängigkeitskrieges von 1948 seien sehr wohl Menschen evakuiert
worden, doch er wirkte unbeeindruckt wie einer der antiken Propheten.
Man konnte sich vorstellen, wie er auszieht, um im Namen des Herrn der
Heerscharen Rache zu üben. Im Radio hieß es, Israel erwidere das Feuer.
Am nächsten Morgen sagten sie in den Nachrichten, die Terroristen hätten
am gestrigen Abend Rache für das erwiderte Feuer genommen. Nun, so hieß
es, werde man erneut reagieren.
Radikale Rabbiner rufen im Namen des
Judentums, das niemals Rache oder Gewaltanwendung gekannt und das Leben
stets der Herrschaft über ein Land vorgezogen hat, dazu auf, den Feind
zu schlagen. Muslimische Extremisten schwören, Dutzende von
Selbstmordattentätern in jeden Winkel Israels zu entsenden, was sie in
der Tat ständig versuchen. Noch haben die Sicherheitsorgane die meisten
Attentatsversuche vereitelt, doch nicht alle und nicht immer.
Ich zog los, eine Winterjacke zu kaufen,
denn trotz des warmen Frühlingswetters wurde mir gesagt, in Berlin sei
es kalt. In einem kleinen Laden fand ich eine letzte, aus der
Winterkollektion noch übrig gebliebene Jacke. Neben dem Geschäft im
Dizengov-Center in Tel Aviv standen Tausende von Israelis Schlange, weil
Ikea seine erste Filiale im Land eröffnet hatte und alle schwedische
Betten und Stühle kaufen wollten. Unterdessen erfuhr man, dass noch ein
Soldat getötet worden sei. Vier junge Palästinenser wurden verwundet,
einer von ihnen tödlich.
Wie in den gesamten letzten sechs Monaten
- nein, um die Wahrheit zu sagen -, wie während der gesamten siebzig
Jahre, die ich hier lebe, und auch in den zehn Jahren vor meiner Geburt,
als meine Mutter sich als junges Mädchen um Dutzende getöteter Juden
kümmerte, die mit abgerissenen Gliedmaßen und geschändet im Hof des
Gymnasiums Herzliya lagen, haben wie immer alle das Recht auf ihrer
Seite, schießen zurück, erwidern nur das Feuer oder üben Vergeltung. Die
Araber schießen auf Fahrzeuge von Zivilisten, und die israelische Armee
sprengt Häuser in die Luft. Doch dessen ungeachtet ist in Netanja ein
Bus von einem Selbstmörder in die Luft gejagt worden, hat ein weiterer
Bus, gesteuert von einem Araber, den es nach Rache verlangte, sechs
junge Israelis getötet, die an einer Bushaltestelle standen. Ein
arabisches Mädchen wurde getötet, und nach seiner Beisetzung kam es zu
einem Ausbruch von Hassparolen, Steinwürfen und Schüssen. Ein
israelischer Soldat wurde schwer verletzt, ein Palästinenser getötet und
eine Israelin, die mit ihrem Wagen nach Hause unterwegs war, tödlich
verwundet.
Das ganze Leben lebt man
mit dem Schwert in der Hand
Und im Kibbuz Nachal-Oz, nicht weit vom
Gaza-Streifen, in einem Landstrich, der seit dem Tag der Staatsgründung
immer israelisches Staatsgebiet gewesen ist, schlug ein Wasserreservoir
leck. Ein Wasserreservoir ist in der Negevwüste ungefähr so viel wert
wie andernorts ein Meer von Öl. Zumal in diesem Jahr, da es so gut wie
keinen Winter gegeben hat und der Wassermangel akuter denn je ist. Die
Bewohner des Kibbuz, die am Tag zuvor zum ersten Mal seit 1948
Mörsergranaten, die vom Gaza-Streifen aus abgefeuert wurden, abbekommen
hatten, flüchteten sich auf die Dächer, bis das Wasser versickert und
ein Rinnsal sich in Richtung der Gewächshäuser im Gaza-Streifen ergossen
hatte.
Dies hielt Jassir Arafat aber nicht davon
ab, auf der Konferenz der arabischen Außenminister in Amman zu tönen,
Israel setze jetzt auch Wasser im Kampf gegen die Palästinenser ein, was
so klingt, als heirate man Marilyn Monroe, weil sie kochen kann. Bei
derselben Gelegenheit behauptete Arafat außerdem, Israel mache von
abgereicherter Uran-Munition Gebrauch. Also bitte! Würde Israel schwach
radioaktives Uran einsetzen, wäre überhaupt nicht genug Platz, die
Tausende von Toten zu begraben. Und so geht es Tag für Tag, Lüge und
Vergeltung, Hass und Retourkutsche.
Wer ist man also? Wer bin ich? Ein
Israeli. Und was ist ein Israeli? Das ganze Leben und dazu das Leben der
eigenen Kinder lebt man mit dem Schwert in der Hand. Wurde Israel nicht
geboren, um nach zweitausend Jahren der erste sichere Ort für Juden zu
sein? Nicht wie Nürnberg oder York oder Warschau.
In Berlin ging alles ohne eine einzige
Kugel oder auch nur ein mit Sprengstoff voll gepacktes Auto über die
Bühne, einmal abgesehen von der Glasplatte, die Ullmann auf dem Platz
vor der Humboldt-Universität in den Boden einsetzen ließ und durch die
man die Regale der Bücher, die bei "jenem" Mal verbrannt wurden, sieht.
Außerdem war es wirklich sehr kalt. Symposien wurden abgehalten. All die
Schüsse und das Blut, das wir zurückgelassen hatten, gerieten zu Worten.
Es sprachen Araber, es sprachen Juden. Auch Deutsche sprachen. Alles in
allem eine große Zurschaustellung der arabisch-jüdischen Wunde vor den
Deutschen, die sich an dem Gedanken ergötzten, dass auch die Israelis -
wie einige der anwesenden Israelis selbst ausführten - ein bisschen wie
Nazis seien. Ich hielt eine Rede über die Lage. Oder richtiger, die Lage
hielt eine Rede durch mich.
Unter den Gästen aus Israel ragte der
arabische Knesset-Abgeordnete Achmed Tibi hervor. Von Hause aus
Gynäkologe, hatte Tibi lange Zeit als politischer Berater Arafats
fungiert, bevor er in die Knesset gewählt wurde. Immer war er mir
gnomenhaft, böse und zynisch erschienen. In Berlin nun entdeckte ich,
dass er Größe besitzt und über ein bezauberndes Lächeln verfügt. Dass er
liebenswürdig und klug ist. In der Lobby des Hotels erfuhr er über Handy
durch einen Bekannten, dass zwei israelische Jugendliche sich verlaufen
hatten, bei Ramallah gekidnappt worden waren und nun den Tod vor Augen
hatten. Tibi rief irgendjemanden vom palästinensischen Sicherheitsdienst
an, der offenbar Bedenken hatte, worauf Tibi Arafat anrief und dann noch
mit ein paar anderen verhandelte. Dabei stand er die ganze Zeit über in
der Lobby des Hotels mit uns zusammen. Ich weiß nicht, mit wem er noch,
außer mit Arafat, sprach, aber schließlich setzte Tibi ein Lächeln auf,
rief einen israelischen Verbindungsmann an und sagte, Arafat habe
zugestimmt, die beiden Jugendlichen seien außer Gefahr und bereits der
israelischen Polizei übergeben worden. Ich sagte zu ihm, ich wolle ihm
danken, worauf er lachte und sagte, was er immer sagt, wenn man mit ihm
redet: Und was habe ich davon? Aber er strahlte etwas aus, das
vielleicht Glück war und vielleicht ein Hoffnungsschimmer, dass nicht
alles schwarz ist. Denn davon abgesehen ist alles rabenschwarz.
Sechshundert Menschen sind in diesem Jahr
bei Verkehrsunfällen bereits zu Tode gekommen. Die Israelis setzen sich
nicht hinters Steuer, um nach Hause zu kommen und dort die eigene Frau
umzubringen. Sie bringen unterwegs jemanden um, bauen Aggressionen ab,
damit sie nach Hause kommen und nett zu ihren Frauen sein können.
Sechshundert Verkehrstote sind, wenn es hoch kommt, ein paar Zeilen in
der Zeitung wert, ein verwundeter Soldat oder ein getöteter
Palästinenser vier ganze Seiten. Die Verhältnismäßigkeit ist schon lange
auf der Strecke geblieben. Der Tod ist ein und derselbe, die Trauer der
Eltern dieselbe, der Verlust der eigenen Kinder gleich schmerzhaft. Und
dennoch!
Israeli zu sein ist in diesen Tagen von
einem Gefühl der vertanen Chancen bestimmt. Ich komme aus der Linken,
werde immer noch mit ihr identifiziert und habe mein Leben lang für
einen jüdisch-arabischen Frieden gekämpft. Aber Juden und Araber
verstehen einander nicht wirklich. Arafat weiß sehr wohl um die
Sprengkraft der Religion, zögerte nicht, zynischen Gebrauch vom
provokativen Auftritt Scharons auf dem Tempelberg (der, so heilig er dem
Islam auch sein mag, zuvor den Christen und noch eher den Juden als
heilig galt) zu machen, indem er zu einer neuen Intifada aufrief, die
zur "al-Aksa Intifada" und damit zu einem Religionskrieg zwischen einer
Milliarde Muslime und fünf Millionen Juden geriet. Bei allem, was sich
in den letzten tausend Jahren zwischen Juden und Deutschen zugetragen
hat, verstehen sie einander besser, als Araber und Juden sich verstehen,
die hier zwei Schritte entfernt von einem toten Säugling leben, getötet
durch einen arabischen Scharfschützen als Vergeltung für einen der
ihren, der nach Aussage der Palästinenser kaltblütig erschossen wurde.
Jede Seite versucht sich einzugraben. Die
Wahrheit ging verloren mit dem Tod des Oslo-Prozesses, von dem wir
jahrelang träumten, um dann zu erkennen, dass wir uns geirrt hatten. Und
in die Irre geführt worden waren. Wir setzten uns für diesen Prozess
ein, weil er die israelische Besatzung beenden, die Siedlungen räumen
und einen Frieden herbeiführen sollte, den Arafat als den "Frieden der
Mutigen" zu bezeichnen pflegte. Doch der Friedensprozess starb, als das
israelische Angebot in seiner letztgültigen Form, das die Forderungen
der Palästinenser zu 97 Prozent erfüllte, von der palästinensischen
Führung ebenso wie der amerikanische Vorschlag, der dem von Barak
unterbreiteten ähnelte, abgelehnt wurde. Bei aller Klugheit verrannte
sich Barak blind in die richtige, notwendige, aber unmöglich zu
realisierende Konzeption. Dann kam die neue Intifada, und die Israelis
gingen immer mehr auf Distanz zu ihrem Ministerpräsidenten, der auch
unter Beschuss noch weiterverhandelte, ehe er im hartnäckigen Bemühen,
ein Ende des Konflikts herbeizuführen, politischen Selbstmord beging und
am Ende eine vernichtende Wahlschlappe erlitt. Die Linke zürnte ihm,
weil er den Dschinn der Wahrheit aus der Flasche befreit hatte: dass es
den Arabern gar nicht um die Besatzung zu tun ist, sondern dass sie
nicht bereit sind, unsere bloße Existenz hier zu dulden. Die aus einem
jahrelangen Traum frustriert erwachte Linke trat Barak ins Knie, weil
der nun mal verfügbar war.
Arafat, der alles tat, damit Scharon
gewählt wurde, hat allem Anschein nach keine Lust, ein kleines Land mit
Steuern, Wassersorgen und Abwasserproblemen zu führen, und zieht es vor,
ein großer Freiheitskämpfer wie Saladin zu bleiben. Und die israelischen
Araber, die zu Recht empört waren über eine Regierung, deren
Polizeikräfte dreizehn demonstrierende Staatsbürger arabischer Herkunft
einfach über den Haufen schossen, rächten sich an Barak, womit sie sich
selbst eine riesige Kugel ins Bein jagten.
Was tut man in einem Krieg
- diskutiert man etwa über Kant?
In Deutschland sieht man nur die paar
tausend radikalen jüdischen Siedler, die erfüllt sind von kaltem Hass,
Gezeter und Rachegelüsten. Was man nicht wahrnimmt, sind die 95 Prozent
der Bevölkerung, die keine ultraorthodoxen Fanatiker sind, die keine
lächerlichen Verkleidungen tragen und ihre Kinder nicht opfern. Man
stelle sich einmal vor, Deutschland würde heute auf jedem
Nachrichtenkanal der Welt mit Bildern von ein paar tausend Neonazis
dargestellt, die Hand zum Gruß erhoben und "Heil" grölend. Was das
Fernsehen heute zeigt, ist Krieg. Würde einer heute in Berlin in aller
Ruhe zuschauen, wenn die deutsche Hauptstadt Nacht für Nacht beschossen
würde wie die Hauptstadt Israels? Ist Granatfeuer gegen israelische
Ortschaften kein Krieg? Und was tut man in einem Krieg? Sitzt man und
diskutiert Kants Sittenlehre? Oder kämpft man, um zu überleben, jede
Seite auf das eigene Überleben bedacht? Soldaten lernen nicht, Spinozas
Ethik herunterzubeten, sondern zu töten und zu versuchen, nicht getötet
zu werden. That's the name of the game. So wird es vielleicht
noch vierzig Jahre weitergehen, werden auch dann noch die Söhne der
Enkel meiner Generation, die den Staat gegründet hat, ausziehen, um zu
dienen und in sinnlosen Schlachten zu sterben. Genau wie die Urenkel
jener Männer, gegen die wir 1948 gekämpft haben.
Achmed Tibi und ich verstehen einander.
Wir wollen bestimmt nicht dasselbe, aber er weiß wie ich, dass es jetzt
nicht hilft, nach Frieden zu suchen, sondern eine behutsame Trennung und
Formeln hermüssen, um die Feindschaft abzukühlen und ein gemeinsames
Leben auf des Rasiermessers Schneide zu ermöglichen. Und so nimmt das
Leben weiter seinen Gang zwischen einem Konzert des
Philharmonieorchesters und den Truthähnen, die Israel in das von MKS
heimgesuchte Europa exportiert. Einer, der damit ein Vermögen gemacht
hat und neben mir im Flugzeug von Frankfurt saß, meinte, das werde eine
Weile noch so weitergehen.
In Berlin ging ich in die
St.-Matthäus-Kirche, um mir die Johannes-Passion
von Bach anzuhören. Da saßen wir also, all die israelischen
Knesset-Abgeordneten und ich, in der schönen Kirche und bekamen
Texthefte verteilt. Zu den Klängen der himmlischen Musik hörten wir, was
für ein guter Mensch Pontius Pilatus gewesen sei, der nicht wollte, dass
Jesus stirbt, und dass nur die bösen Juden es gewesen seien, die nach
seinem Blut verlangten. Die wunderbare Musik und diese Worte blieben
Erinnerungen auf dem langen Weg zurück von Leipzig - der Stadt, in der
einst der Bruder meines Großvaters lebte und Johann Sebastian Bach
herrliche Messen mit Texten versah, aus denen der Judenhass nur so
troff. Worte, die als Landmarken in den dreißiger Jahren die Odyssee von
Juden aus Leipzig ins Land Israel begleiteten, als die Araber sich
daranmachten, gegen diese Flüchtlinge Krieg zu führen, und am Ende
Erfolg hatten, indem sie die Briten dazu brachten, die Tore Palästinas
zu schließen, und der Großmufti nach Berlin fuhr, um eine muslimische
Armee im Dienste der SS aufzustellen.
Heutzutage Israeli zu sein bedeutet,
zurück in die dreißiger Jahre versetzt zu werden. In die Zeit, als wir
am Strand standen und auf die wenigen Juden aus Deutschland, Österreich
und Polen warteten, denen es trotz allem gelang, sich bis nach Palästina
durchzuschlagen. Und die Araber sagten, wenn in Europa die Juden
verbrannt werden, warum suchen sie ausgerechnet bei uns Unterschlupf?
Wir führten damals gegen die Araber Krieg und sie gegen uns. Im Alter
von acht Jahren war ich einmal mit meinen Eltern in einem gepanzerten
Fahrzeug unterwegs zur Ortschaft Gedera, als wir von Marar aus, dem
schönsten arabischen Dorf, das ich je gesehen habe, ein riesiger
Taubenschlag, der sich über den Rücken eines von Datteln und
Feigenbäumen bestandenen Hügels ergoss, beschossen wurden. Ein Freund
meiner Mutter starb neben mir. Damals war ich weder Siedler noch
Besatzer, sondern nur ein israelischer Junge, der, obwohl sein Vater
sich gewünscht hätte, er würde in Deutschland geboren, in Tel Aviv zur
Welt kam, der Stadt, deren Hauptverkehrsader damals Ben-Jehuda-Straße
genannt wurde, in der die meisten unserer Nachbarn Deutsch sprachen und
lasen, die Restaurants deutsche Gerichte auf der Speisekarte hatten und
alle neuen Häuser im Bauhausstil erbaut wurden.
Seither und bis heute sind lange Jahre
vergangen, in denen ich Soldat gewesen bin, zur See fuhr und jüdische
Überlebende der KZs ins Land brachte, für eine jüdisch-arabische
Koexistenz kämpfte und einer derjenigen war, die als Erste über Frieden
sprachen, wofür ich einen hohen politischen Preis zu zahlen hatte. Auf
dem Höhepunkt der ersten Intifada fuhr ich nach Ramallah, um gemeinsam
mit denjenigen, die damals meine palästinensischen Freunde waren, nach
einem Weg zu suchen. Doch als dann die Osloer Verträge unterzeichnet
wurden - unter anderem ein Ergebnis unserer Bemühungen, für die uns
Arafat persönlich dankte -, waren es meine arabischen Freunde, die jeden
Kontakt zu uns abbrachen.
Nicht nur sie. Heute sind so gut wie alle
arabischen Intellektuellen in Israel, den besetzten Gebieten, in
Jordanien und Ägypten nicht mehr bereit, Kontakt zur israelischen Linken
aufzunehmen. Stattdessen gebärden sie sich wie die israelischen
Rechtsaußen und sprechen im Stil von "Alles oder nichts". Alle
Fluchtwege sind versperrt. Angesichts der derzeitigen Lage existiert
keine Festlandgrenze zwischen Israel und der Welt mehr. Zwei kranke
Völker kämpfen mit zwei unterschiedlichen Geschichtsschreibungen um ihr
Leben. Und sollte es doch noch so etwas wie eine intellektuelle Debatte
geben, dann wird sie nicht nur darüber geführt, was tatsächlich
geschieht, sondern vor allem darüber, wer mehr und wer zuerst gelitten
hat. Der einzige Lichtblick in diesen Tagen ist vielleicht, dass
palästinensische Intellektuelle einen Kongress von Holocaust-Leugnern in
Beirut verhindert haben. Zumal vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
mehrere hundert Millionen Araber nicht wissen sollen, dass es einen
solchen überhaupt gegeben hat, da es in weiten Teilen der arabischen
Welt verboten ist, sich Filme über den Holocaust anzusehen, Bücher zu
diesem Thema zu lesen, und ein Film wie Schindlers Liste nicht
zur Ausstrahlung zugelassen wurde. Doch nun wächst - vielleicht - die
Bereitschaft, sich mit der anderen Seite des historischen Rechts
auseinander zu setzen.
Die Hoffnung, dieser Albtraum könne
enden,
ist verschwunden
Alles hier ist absolut. Im Namen
überlebter Religionen, die zu neuer Vitalität gefunden haben, werden
hier biblische Kriege ausgetragen mit Opfern, die vor ihrem Tod noch
schnell eine neue Seite ins Internet stellen. Eine junge Frau aus
Ramallah verführte im Chat einen israelischen Halbwüchsigen, zu ihr nach
Jerusalem zu kommen. Der arme Junge, gerade mal sechzehn Jahre alt, war
Feuer und Flamme. Sie schrieb ihm aufregende Dinge, er fuhr zu ihr, sie
nahm ihn in ihrem Wagen mit, angeblich zu sich nach Hause, und lieferte
ihn an ihre Handlanger aus, die ihn umbrachten. Als sie in Handschellen
in den Gerichtssaal geführt wurde, hielt sie diese stolz in die Höhe,
lachte und meinte, das werde uns eine Lehre sein.
Alle erteilen hier allen eine Lehre. Wir
ihnen und sie uns. Aber das Allerwichtigste, der Traum, dass dieser
Albtraum einmal tatsächlich enden könnte, ist verloren gegangen. Der
jordanische Außenminister meinte unlängst zu Arafat, nachdem dieser eine
Teilung Jerusalems, die israelischen Forderungen in Bezug auf die
Westmauer und auch die übrigen Vorschläge Baraks abgelehnt hatte, ein
solches Angebot werde er viele Jahre nicht mehr bekommen. Aber die Logik
lebt hierzulande im Herzen, welches die Logik laut Pascal nicht
begreifen kann. Arafat kontrolliert Hunderte von Millionen Dollar, die
die europäischen Staaten an die Palästinenser zahlen und die er mit
Hilfe seiner Kameraden aus der Führungsclique auf Bankkonten in der
Schweiz transferiert. Die Welt stellt Hilfsgüter zur Verfügung, aber
diese gelangen nicht zu den hungernden Palästinensern. Die Israelis
halten daran fest, Arafat zu dämonisieren, weil sie ihn in seiner
Korruptheit trotz allem als geliebten Feind betrachten. Aber nicht der
kleine, hungernde Mann von der Straße, der in Israel arbeiten will, wird
es sein, der Arafat vielleicht bald in die Wüste schickt, sondern die
muslimischen Fundamentalisten werden es sein, vor denen er zu Recht
Angst hat. Sie bekommen finanzielle Unterstützung aus dem Iran und
scheinen unbegrenzt - wie sie es nennen - "Märtyrer" rekrutieren zu
können, die mit Sprengstoff am Körper die grüne Linie überwinden, sich
irgendwo in Israel selbst in die Luft jagen und jeden, der in ihrer Nähe
ist, mit ins Jenseits befördern sollen.
Machen wir uns nichts vor, auch die
israelischen Reaktionen sind schmerzhaft. Und sind sie es, dann ereifert
sich die Welt über die israelische Barbarei, woraufhin die
Ausgangssperren gelockert werden und man die Palästinenser hereinlässt,
bis einer von ihnen ein mit Sprengstoff beladenes Autor chauffiert und
erneut Ausgangssperren verhängt werden. Fliegen die Israelis
Luftangriffe gegen Kommandoeinrichtungen, die sich im Vergleich zu dem,
was die Nato in Belgrad veranstaltet hat, recht harmlos ausnehmen (aber
hier sind nun mal wir die bad guys),
tritt die scheinheilige Welt auf den Plan und sagt: Wenn ein arabischer
Terrorist auf Jerusalem schießt und man ihn bestrafen will, warum muss
dann jeder, der sich in seiner Nähe befindet, etwas abbekommen? Doch
sobald Israel beschließt, gezielt gegen einzelne Terroristen vorzugehen
und sie - wie es nun mal heißt - zu "liquidieren", schreit die Welt auf,
dies sei staatlich verordneter Mord, worauf dann die guten Israelis
protestieren. Und so in einem fort. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Woche
für Woche.
Unterdessen füllen sich die Strände in Tel
Aviv mit sonnenbadenden Israelis, die das im Frühling herrlich
temperierte Meer genießen, während fundamentalistische Extremisten auf
beiden Seiten dazu aufrufen, mit harter Hand vorzugehen, aus dem Weg zu
räumen und zu töten. Und wer versucht, ein nüchterner, realistischer
Humanist zu bleiben, steckt in der Klemme. Während des Algerienkriegs
tat Albert Camus einen Ausspruch, der ihm den völligen Boykott durch die
französische Linke einbrachte: Gerechtigkeit sei zweifelsohne wichtig,
aber wenn Gerechtigkeit und die Möglichkeit, dass die eigene Mutter
ermordet würde, einander gegenüberstünden, sei er für seine Mutter.
Beide Seiten haben die historische
Gelegenheit zum Frieden dahingehen lassen. Die Araber beanspruchen unser
gesamtes Staatsgebiet, weil ihnen ein palästinensischer Staat in den
1967 eroberten Gebieten nicht ausreicht. Der fatale Fehler des
israelischen Friedenslagers hingegen war, das eigentliche Wesen der
Feindschaft nicht begriffen zu haben. Der Tod fordert unaufhörlich
seinen Blutzoll. Heutzutage Israeli zu sein ist nicht weniger tragisch
oder absurd als im 12. und 13. Jahrhundert ein Jude in Speyer, wo die
Juden mit schöner Regelmäßigkeit abgeschlachtet wurden. Und dennoch bin
ich hier, sind meine Töchter hier, mein Klima, der Hund, das Fleckchen
Erde, auf dem man mich begraben wird, meine toten Eltern, die Worte, die
meine Bücher schreiben. Ich weiß, dass ein Wunder nicht in Sicht ist.
Eugene O'Neill hat einmal in Kaiser
Jones geschrieben, dass der Mensch zerbrochen geboren werde, das
Leben ein Puzzle sei und Gottes Gnade der Klebstoff. Die zurückliegenden
sechs Monate, in denen die Araber dem Traum, den viele von ihnen und die
Mehrheit der israelischen Linken sich als "Frieden jetzt" erträumten,
den Garaus gemacht haben, haben dazu geführt, dass es für einen wie mich
keinen gnädigen Gott mehr gibt. Die Friedensoption ist für viele Jahre
zu den Akten gelegt. Was sein wird, weiß niemand. Vielleicht kommt es zu
Interimslösungen. Aber wie bei den endlosen Kriegen der Vergangenheit
zwischen Frankreich und Deutschland oder den bis auf den heutigen Tag
andauernden zwischen Briten und Iren, auf dem Balkan oder zwischen
Pakistan und Indien ist kein Licht am Ende des nahöstlichen Tunnels zu
sehen.
Die Araber sagen: Ihr habt in einem
arabischen Land kein Existenzrecht, kehrt nach Berlin, Warschau und
Odessa zurück, denn wir - die Araber - leben hier seit Hunderten von
Jahren. Aber ich möchte meine deutsche Leserschaft nicht verängstigen.
Bitte erschrecken Sie nicht! Wir werden nicht nach Wien, Berlin oder
Warschau zurückkehren. Wir bleiben hier und hoffen zähneknirschend
darauf, dass es in dieser nachtschwarzen Finsternis ein Fünkchen Licht
gibt, das, auch wenn wir es noch nicht sehen, kommen wird.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Von
Yoram Kaniuk erschien zuletzt im List Verlag München der Roman "Verlangen"
(c) DIE ZEIT 17/2001
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