
Die zwei Gesichter
des Eichmann-Prozesses
Von TOM SEGEV *
* Journalist und Historiker in Jerusalem. Autor
zahlreicher Bücher, u. a. "Die siebte Million. Der Holocaust und Israels
Politik der Erinnerung", Reinbek (Rowohlt) 1995; "One Palestine,
Complete", London (Little, Brown & Company) 2001.
AM 15. Februar 2000 versammelten sich einige hundert
Menschen zu einer philosophischen Debatte über das Erinnern. Auf
Einladung des Instituts d'études livinassiennes(1) versuchten
Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut den "Sinn" von
Auschwitz und die Einzigartigkeit des Holocaust zu beleuchten.
Es ging um die Frage, ob das Erinnern über das Vergessen oder
umgekehrt das Vergessen über das Erinnern gesiegt habe, und
darum, ob die Kultivierung des Holocaust-Gedenkens Israel
letztlich nutze oder schade. Es schade wohl eher, meinte Alain
Finkielkraut, denn wenn die Juden den Holocaust als das absolute
Böse hinstellten, leugneten sie ein wesentliches Erbe Europas:
den Antisemitismus.
Derart groß angelegte, abstrakte Debatten sind in
Israel selten. Für die Mehrheit der Bevölkerung sind die Schrecken der
Vergangenheit schlicht Teil der eigenen Biografie bzw. integrativer
Bestandteil der kollektiven Identität. Fast täglich findet man in einer
Zeitung einen Bezug zum Holocaust, auch wenn nur wenige Israelis das
Erinnern als solches reflektieren.
Die Debatte fand im Übrigen - symbolträchtig - in
genau dem Raum statt, in dem man vor vierzig Jahren Adolf Eichmann
verurteilt hatte. Damals, mit diesem Prozess, begann Israel, sein
kollektives Gedächtnis vom Holocaust zu entwickeln.
Der SS-Obersturmbannführer und Organisator der
Judenvernichtung, Adolf Eichmann, war vom israelischen Geheimdienst im
Mai 1960 aus Buenos Aires entführt worden. Die Mossad-Agenten hätten ihn
auch töten können, aber das wollten sie nicht. Bis dato war die Jagd auf
Altnazis für Israel nicht von vorrangiger Bedeutung gewesen.
Premierminister David Ben Gurion interessierte sich nicht für die Person
Eichmann, sondern er wollte den Prozess: "Wichtig ist nicht die Strafe,
sondern die Tatsache, dass der Prozess stattfindet, und zwar hier in
Jerusalem."
Ben Gurion hatte zwei Ziele vor Augen: Erstens sollte
die Weltöffentlichkeit an ihre Pflicht erinnert werden, nach dem
Holocaust den einzigen jüdischen Staat der Welt zu unterstützen. "Die
Nazi-Anhänger in Ägypten und Syrien", sagte er, "wollen Israel zerstören
- das ist die derzeit größte Gefahr, der wir ausgesetzt sind." Und dann
fügte er hinzu, die antizionistische Propaganda der arabischen Staaten
mit ihrem nazistischen Gedankengut nähre sich aus dem Antisemitismus.
"Sie sagen ,Zionisten' und meinen ,Juden'." Daraus wurde kurzerhand der
Schluss, dass die Feinde Israels immer auch die Feinde des jüdischen
Volkes seien und dass jeder Unterstützer Israels gegen den
Antisemitismus streite. Entsprechend konnte der Völkermord die
moralische Geltung der zionistischen Idee untermauern und den Interessen
des Staates Israel von Nutzen sein.
Bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte
die zionistische Bewegung den Holocaust als diplomatisches Mittel
eingesetzt, um die Staatsgründung voranzubringen. Die Behauptung, Israel
sei aus dem Völkermord hervorgegangen, entbehrt jedoch jeder Grundlage.
Natürlich führten Schock, Schrecken und Schuldgefühle weltweit zu einem
tiefen Mitgefühl mit den Juden im Allgemeinen und den Zionisten im
Besonderen, was denn auch deren diplomatischen Zielen nutzte. Doch die
sozialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Fundamente
Israels wurden dreißig Jahre vor dem Holocaust gelegt. Tatsächlich hat
die Vernichtung des europäischen Judentums den zionistischen Traum stark
lädiert, denn sie zwang Israel, Juden aus den arabischen Staaten
einwandern zu lassen, was den ursprünglich angestrebten europäischen
Charakter des Staates abschwächte.
Tatsächlich trugen die sozialen Unruhen dieser
Bevölkerungsteile, vor allem der neu eingewanderten marokkanischen
Juden(2), wesentlich dazu bei, dass Ben Gurion den großen
Holocaust-Prozess initiierte. "Sie kamen aus Asien oder Afrika und
hatten nicht die geringste Vorstellung davon, was Hitler getan hatte.
Man musste ihnen das alles von Anfang an erzählen", erklärte der
Premierminister.
Das zweite Ziel, das Ben Gurion mit dem
Eichmann-Prozess verfolgte, war also, den Bewohnern Israels, vor allem
den jungen, ein paar Lektionen über den Holocaust zu geben. Es ging
darum, die Gesellschaft in einer nationalen, ergreifenden, reinigenden
und patriotischen Katharsis zu einen. Darüber hinaus wollte man mit dem
Prozess zweifellos auch der Anschuldigung entgegentreten, die von Ben
Gurion angeführte zionistische Bewegung habe während des Krieges nicht
alles in ihrer Macht Stehende getan, um die europäischen Juden zu
retten. Mit dem Prozess erbrachte man den Beweis, dass man dem Holocaust
nicht gleichgültig gegenüberstand, und dies, obwohl man enge
wirtschaftliche und militärische Beziehungen mit der Bundesrepublik
Deutschland zu knüpfen suchte.
Die zentrale Bedeutung dieses Prozesses jedoch lag in
seiner kollektiven therapeutischen Funktion. Vor dem Eichmann-Prozess
war der Völkermord an den Juden in Israel weitgehend tabuisiert. Eltern
sprachen nicht mit ihren Kindern darüber, die Kinder trauten sich nicht,
Fragen zu stellen. Schrecken, Schuld und Scham sorgten dafür, dass der
Holocaust gründlich beschwiegen wurde. Viele Israelis fühlten sich
schuldig, weil sie vor Beginn der Katastrophe aus Europa geflohen waren
und ihre nächsten Angehörigen dort zurückgelassen hatten. Und viele
Entkommene empfanden Scham, weil sie überlebt hatten und glaubten, sich
andauernd dafür rechtfertigen zu müssen. Zahlreiche Israelis verachteten
die Opfer für deren Schwäche und fragten, warum die Juden sich nicht
gewehrt hätten. Einige schauten von oben auf die Überlebenden aus den
Lagern herab und sahen sich selbst als die "neuen Juden" der
zionistischen Mythologie. Einige Überlebende waren körperlich und
geistig gebrochen und warfen den Israelis Gleichgültigkeit vor. Viele
hätten nur zu gerne ihre Erfahrungen mitgeteilt, aber kaum jemand
interessierte sich dafür.
Daher war der Eichmann-Prozess der Anfangspunkt für
etwas Neues: Der Holocaust wandelte sich von einem geheimnisvollen und
schrecklich schmerzhaften Trauma zu einer institutionalisierten
nationalen Erinnerung und wurde schließlich ein wesentliches Element der
israelischen Identität - seiner Kultur wie seines politischen Lebens.
Die meisten Israelis von heute betrachten sich, wie
Meinungsumfragen zeigen, als Überlebende des Völkermords, auch wenn ihre
Familien aus der arabischen Welt stammen. Die Studienreise an die Orte
der Vernichtung in Polen gehört zum festen Lehrplan der Gymnasiasten.
Die Art und Weise, wie der Holocaust zu einem
zentralen Element des täglichen Lebens geworden ist, hängt nur zu Teilen
mit dem israelisch-arabischen Konflikt zusammen. Vielmehr spiegeln sich
in der veränderten Haltung Israels gegenüber dem Völkermord zwei
Hauptentwicklungen der letzten Jahre, die Israels postzionistisches
Stadium einläuten könnten: Israel ist sowohl jüdischer als auch
amerikanischer geworden, und beide Entwicklungen haben ihren Höhepunkt
wahrscheinlich noch nicht erreicht.
Im Gegensatz zu den Träumen der Gründungsväter haben
die meisten Einwohner Israels nach wie vor jene in der zionistischen
Ideologie so verhasste "entartete" Mentalität des Exils: Je mehr Jahre
verstreichen, desto mehr entdecken sie ihre jüdischen Wurzeln und
pflegen die jüdischen Traditionen. Die alternative Identität des "neuen
Menschen", die unmittelbar an die großen biblischen Gestalten anknüpft,
erweist sich als unzureichend. Zweitausend Jahre Geschichte lassen sich
eben nicht durch eine neue Ideologie ersetzen. Allenthalben ist zu
erkennen, dass die Bedeutung der jüdischen Tradition wächst - das belegt
nicht zuletzt der zunehmende Einfluss der Religion. Ein weiteres
Beispiel ist der Raum, den der Holocaust vor allem für die
nichtreligiösen Israelis einnimmt. Die Erinnerung hat sie zum Judentum
zurückgebracht.
Im Zentrum von Jerusalem gibt es ein koscheres
McDonalds-Restaurant, das in den US-Medien gerne als Beispiel für die
Amerikanisierung Israels angeführt wird. Außerdem ist in Israel der
Anteil an Internetnutzern höher als in vielen anderen entwickelten
Ländern. Der amerikanische Einfluss hat in den letzten zwanzig Jahren
das wirtschaftliche, politische und kulturelle Gefüge der israelischen
Gesellschaft grundlegend verändert.
Während der Achtzigerjahre, als der Holocaust zum
zentralen Element der israelischen Identität wurde, gab es innerhalb der
jüdischen Gemeinschaft sowohl der USA als auch anderer Länder eine ganz
ähnliche Entwicklung. So gesehen könnte man sagen, das nationale
Gedächtnis habe neben vielen anderen Tendenzen aus Amerika auch den
Holocaust als identitätsstiftenden Mythos übernommen.
Die meisten Israelis sind heute jüdischer und
amerikanischer, selbstsicherer und ganz offensichtlich reifer,
individualistischer und weniger ideologisch denn je. Sie leben nicht
mehr in einer geistigen Welt der Lager- und Stammesmentalitäten, sie
existieren vielmehr im Hier und Jetzt, ganz so wie die Menschen in den
USA. Diese neue Grundeinstellung erklärt, warum so viele den
Friedensprozess von Oslo mittlerweile unterstützen.
Die offenbar hoffnungslos festgefahrenen
Friedensverhandlungen verhindern, dass die historische Veränderung der
israelischen Position bereits sichtbar wird. Noch vor einigen Jahren
weigerte sich Israel kategorisch, die PLO anzuerkennen. Es gab sogar ein
Gesetz, das private Kontakte von Israelis zu Mitgliedern der PLO
untersagte. Friedensaktivisten, die dem zuwiderhandelten, wurden damals
bestraft und inhaftiert. Israel erklärte, dass bis zu einem endgültigen
Friedensvertrag von den 1967 besetzten Gebieten kein Quadratmeter
aufgegeben werde - und hat sich bis heute daran gehalten. Israel lehnte
die palästinensische Unabhängigkeit ab - und hat seine Haltung
inzwischen geändert. Israel verweigerte früher jegliche Veränderung am
Status von Jerusalem - Ehud Barak hat den Palästinensern eine gemeinsame
Verwaltung der Stadt angeboten und damit fast ein Sakrileg begangen.
Mehr Israelis als erwartet haben all diese Schritte gutgeheißen. Und die
Mehrzahl der Israelis hat den Rückzug der Armee aus dem Libanon
begeistert unterstützt.
All diese Entwicklungen vollzogen sich in den Jahren,
in denen der Holocaust an Einfluss gewann: Das heißt, die Erinnerung hat
die Köpfe der Israelis nicht härter gemacht. Am schwierigsten ist es
letztlich, klar zu unterscheiden zwischen den authentischen, durch den
Holocaust erzeugten Gefühlen und gezielt manipulativ eingesetzten
Argumenten. Israel hat gewiss unter dem Eindruck der Ersteren gehandelt,
aber auch Letztere benutzt. Man kann mit gutem Grund annehmen, dass bei
Ben Gurions Entscheidung, das Land mit Atomwaffen auszurüsten, der
Holocaust eine wichtige Rolle gespielt hat. Hier handelt es sich
unzweifelhaft um ein authentisches Gefühl. Aber als Premierminister
Menachem Begin dem US-Präsidenten Ronald Reagan schrieb, er wolle seine
Armee nach Beirut schicken, um Adolf Hitler - das heißt Jassir Arafat -
in seinem Bunker gefangen zu nehmen, hat er den Holocaust in ein
politisches Argument umgefälscht. Auch die Gegner von Oslo haben den
Völkermord weidlich für ihre Zwecke genutzt: Noch kurz vor seiner
Ermordung war Jitzhak Rabin auf einem Plakat in SS-Uniform zu sehen.
In der Debatte gibt es zwei Gruppen: Die einen betonen
die nationalen, die anderen die universellen Lehren des Holocaust. Trotz
der nach wie vor quälenden Frage, welche Rolle Gott im Holocaust
gespielt hat, hegen diverse ultraorthodoxe Bildungsinstitutionen ihre
eigene Ansicht über den Holocaust und machen sie auch öffentlich. Rabbi
Ovadia Josef, der Anführer der nichtaschkenasischen, ultraorthodoxen
Schas-Partei, hat erst kürzlich gefordert, man dürfe ihn nicht länger
aus dem nationalen Gedächtnis des Holocaust ausschließen.
Je mehr Zeit vergeht, umso weniger werden die
Überlebenden. Die meisten, die heute noch am Leben sind, haben die
Erfahrungen im Lager als Kinder durchgemacht - weshalb in der
Darstellung der Judenvernichtung zunehmend Verbrechen an Kindern im
Mittelpunkt stehen. Dass man heute weniger als früher von den "sechs
Millionen" Toten redet und sich stattdessen auf konkrete
Einzelerinnerungen konzentriert, ist symptomatisch für den wachsenden,
typisch amerikanischen Individualismus. All diese Veränderungen liegen
in der Natur der Sache und vollziehen sich zumeist spontan. Sie prägen
derzeit den politischen und kulturellen Diskurs einer Gesellschaft, der
es bislang nicht gelungen ist, eine konsensfähige gemeinsame Identität
herauszubilden.
Wer die israelische Erinnerung an den Völkermord als
blankes zionistisches Propagandainstrument darstellt - wie es einige
Holocaust-Leugner, unverbesserliche Antizionisten und
Palästinensersprecher tun - ist bösartig oder dumm oder beides. Im Falle
der Palästinenser könnte diese Position schädlich sein: Denn Israel
verstehen kann nur, wer versteht, welche Rolle der Holocaust tatsächlich
für die Mentalität der Israelis spielt. Und man weiß schließlich, dass
nur der mit einem Feind Frieden schließen kann, der ihn zuvor verstanden
hat.
dt. Marie Luise Knott
Fußnoten:
(1) Benannt nach dem jüdischen Philosophen litauischer Herkunft Emmanuel
Levinas (1906-1995).
(2) Im Jahr 1959 gab es in Israel sehr heftige Unruhen, vor allem in
Haifa, im Stadtviertel Wadi Salib.
(3) In dieser Geschichte klang immer der Vorwurf mit, dass die Zionisten
1934 mit den Nazis verhandelt hatten.
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