In Genf wurde Israel wegen Verstößen gegen das humanitäre
Völkerrecht verurteilt. Damit wird die von arabischen Staaten initiierte
diplomatische Intifada fortgesetzt.
von arne behrensen
Wieder einmal standen die Vertreter jüdischer Organisationen fast
allein. »Sehr diplomatisch, sehr ruhig sind 140 Staaten zusammengekommen
und haben sich wieder getrennt, nur um die Tatsache zu bestätigen, dass
die internationale Gemeinschaft Israel noch immer nicht auf demselben
Spielfeld akzeptiert wie den Rest der Welt«, kommentierte Sybil Kessler
von der Women's Zionist Organization of America (Hadassah).
Am vergangenen Mittwoch hatten sich in Genf Vertreter von 114 Staaten
zu einer Konferenz versammelt, die israelische Verstöße gegen das
humanitäre Völkerrecht in den palästinensischen Gebieten konstatierte.
Der Schweizer Vorsitzende stellte öffentlich fest, dass die
palästinensischen Selbstmordattentate und die darauf folgenden
israelischen Helikopterangriffe auf Ziele in Gaza dasselbe seien:
Verstöße gegen die Genfer Konvention.
Mit dabei in Genf war auch die Europäische Union. Nur drei der 189
Vertragsstaaten haben die Konferenz boykottiert: Australien, die USA und
Israel. Das Schweizer Außenministerium dagegen zeigte sich zufrieden:
»Die Erklärung, die ausdrücklich von allen Teilnehmern unterstützt wird,
stellt somit ein repräsentatives Dokument für die
Meinungsübereinstimmung innerhalb der Staatengemeinschaft dar.«
Die Genfer Konventionen wurden 1949 angesichts des deutschen
Vernichtungskrieges und der Ermordung der europäischen Juden
international vereinbart. Heute sind sie für 189 Staaten bindend. Die
Vierte Konvention regelt die Behandlung der Zivilbevölkerung in Kriegen
und unter Besatzung. Nach 1949 wurden die Vertragsparteien lediglich
zweimal zusammengerufen - 1999 und in der vergangenen Woche. Das Thema
dieser beiden Zusammenkünfte war Israel.
Die Genfer Konvention sieht keine Treffen zu spezifischen, sondern nur
zu generellen Problemen vor. Sie ist eine Selbstverpflichtung autonomer
Staaten, als Anklageinstrument wurde sie nicht konzipiert. Im heutigen
Zeitalter vorgeblich humanitärer Militärinterventionen haben die
juristischen Grundlagen der Nachkriegsordnung ihre Gültigkeit verloren.
Der humanitäre Eifer aber ist sehr selektiv.
Warum trifft es Israel? Das unbestrittene Ausmaß menschlichen Leids
kann es nicht sein. Dann nämlich hätten schon Hunderte Konferenzen über
andere Staaten stattfinden müssen.
Die Genfer Konferenz der vergangenen Woche ist vielmehr Teil einer
diplomatischen Initiative gegen Israel. Sie wurde von den Staaten der
Arabischen Liga initiiert, unterstützt von vielen ehemals blockfreien
Staaten. Von den europäischen Staaten, die sich gegen die USA als
Freunde der arabischen Welt profilieren wollen, wird sie zumindest
teilweise unterstützt.
Einen ersten Höhepunkt erreichte diese diplomatische Initiative in den
siebziger Jahren. 1975 verurteilte die UN-Generalversammlung mit großer
Mehrheit den Zionismus als eine Form des Rassismus. Damals wurde auch
die UN-Kommission für die Rechte des palästinensischen Volkes
eingesetzt. Seitdem feiern die Vereinten Nationen Jahr für Jahr am 29.
November den Internationalen Tag der Solidarität mit den Palästinensern.
Israel ist dagegen bis heute kein festes Mitglied in einer
Regionalgruppe der Vereinten Nationen. Deswegen hat es nur beschränkte
Rechte innerhalb der Uno. Die diplomatische Position Israels verbesserte
sich zwar mit dem Beginn des Friedensprozesses Anfang der neunziger
Jahre und 1991 wurde die Resolution, die Zionismus und Rassismus
gleichsetzte, widerrufen.
Das war jedoch nur ein vorübergehender Fortschritt. Spätestens als sich
Yassir Arafat im vergangenen Jahr entschied, eine neue Intifada den
Verhandlungen mit der israelischen Regierung vorzuziehen, bekam auch die
diplomatische Intifada wieder Aufwind. Israel soll auf die
internationale Anklagebank gesetzt werden. Das geschah zuerst in Durban
auf der Antirassismus-Konferenz der Vereinten Nationen vor drei Monaten
(Jungle World, 35/36/01). Die Erklärungen der 56 Staaten der
Organisation der Islamischen Konferenz, die Äußerungen internationaler
NGO und die Straßenproteste übertrafen sich hier gegenseitig mit
antiisraelischen und antisemitischen Forderungen.
Die USA und Israel verließen diese Konferenz unter Protest. Der
israelische Außenminister Shimon Peres begründete diesen Schritt: »Wenn
wir von Menschenrechten reden, dann ist es das erste Menschenrecht, zu
überleben. Denn wenn man jemanden tötet, sind die restlichen
Menschenrechte irrelevant und unwichtig. Seit 53 Jahren ist Israel
gezwungen, das Recht zu überleben zu erkämpfen.«
Dieser Kampf ums Überleben im Nahen Osten wird den Israelis jedoch übel
genommen. Und er wird nun sogar auf der Ebene von
Menschenrechtsverletzungen verhandelt. Aus guten Gründen verwahrt sich
Israel gegen die völkerrechtliche Einstufung des Westjordanlandes und
des Gazastreifens als »besetzte Gebiete«. Dann gälte hier die Vierte
Genfer Konvention. Doch eine internationale Kontrolle kann Israel
angesichts der einseitigen Haltung der so genannten internationalen
Staatengemeinschaft nicht erlauben. Das wurde in Genf einmal mehr
bestätigt.
Vertreter der israelischen Regierung sprechen grundsätzlich von
»umstrittenen Gebieten«. Und sie bestehen darauf, alle Probleme in
direkten Verhandlungen mit den Palästinensern nach einem Ende der Gewalt
zu lösen. Die Genfer Konferenz beschloss jedoch einvernehmlich auf
Initiative der Arabischen Liga, es handele sich um besetzte Gebiete.
Israel wurde als Besatzungsmacht bezeichnet, und die jüdischen
Siedlungen in den palästinensischen Gebieten seien illegal.
Ohne weitere Untersuchung wurden zugleich Verstöße gegen die Vierte
Genfer Konvention festgestellt. Die Mitgliedsstaaten appellierten an
Israel, auf vorsätzliche Tötungen, Folter sowie die extensive Zerstörung
von Eigentum zu verzichten. Kritistiert wurden außerdem Kollektivstrafen
und die ungerechtfertigte Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Damit
wurde konstatiert, dass Israel Kriegsverbrechen begangen habe.
»Die Instrumentalisierung von humanitären und
Menschenrechtsinstitutionen durch arabische Staaten zum Angriff auf
Israel ist nicht neu«, erklärte Andrew Srulevitch von U.N. Watch, einer
dem American Jewish Comittee angeschlossenen NGO. Die in Genf
verabschiedete Erklärung aber »setzt einen sehr gefährlichen
Präzendenzfall für den Missbrauch des humanitären Gesetzes«.
Die Erklärung, verabschiedet kurz nach einer Serie grausamer Attentate
auf israelische Zivilisten, ist ein weiterer Erfolg der diplomatischen
Intifada. Sie wird die Bereitscchaft der Palästinenser, einen
Waffenstillstand einzuhalten, kaum vergrößern, sondern sie eher zu
weiteren Angriffen auf Israelis motivieren.
jungle-world.com / 12. Dezember 2001