Auszüge aus dem
Artikel von Scheich Abd Al-Hamid Al-Ansarit:
„Es gibt gemeinsame Grundbedürfnisse und
gemeinsame Interessen zwischen dem Osten und dem Westen. Aber vor allem
anderen gibt es ein gemeinsames humanistisches Erbe, welches geschützt
und gestärkt werden muss: Die Anerkennung menschlicher Vielfalt und
Unterschiedlichkeit, das Respektieren der Besonderheiten und der
religiösen und kulturellen Identitäten verschiedener Völker und
Nationalitäten. [...]
Im Koran heißt es: ‚Ihr Menschen! Wir haben
euch geschaffen indem wir euch von einem männlichen und einem weiblichen
Wesen [abstammen ließen], und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen
gemacht, damit ihr euch [aufgrund der genealogischen Verhältnisse]
untereinander kennt. (Bildet euch aber auf eure vornehme Abstammung
nicht zu viel ein!) Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige von euch,
der am frömmsten ist. Gott weiß Bescheid und ist [über alles] wohl
unterrichtet’. (Sure 49, 13) Dieser Vers verbietet es, eine einzelne
Kultur, ein Regime, eine Idee oder einen Glauben der gesamten Menschheit
aufzuerlegen (oder auf die gesamte Menschheit zu übertragen) Dschihad
bedeutet also in Wirklichkeit, das Recht auf Pluralismus und Vielfalt zu
bewahren und die Wahlfreiheit für alle zu garantieren, weil die Vielfalt
als eine natürliche und universale Wahrheit betrachtet wird. [...]
Meiner Meinung nach erfordert dies sowohl
einen internen als auch einen externen Dialog. Der interne Dialog muss
alle Menschen und Organisationen einer Gesellschaft umfassen, ohne eine
Partei auszuschließen, ohne sie des Verrats oder der Häresie anzuklagen
oder sie zu verleumden. [...] Wir werden keine gesunde, reife und
konstruktive Beziehung mit dem fremden ‚Anderen’ erreichen ohne eine
gesunde Beziehung mit dem ‚Anderen’ innerhalb der eigenen Gesellschaft
aufzubauen, d. h. mit demjenigen, der eine andere politische,
ideologische, religiöse und ethnische Meinung hat [und] ohne unser
Verhalten gegenüber Frauen zu korrigieren, basierend auf dem Prinzip der
Toleranz und dem Respekt für Pluralismus und Akzeptanz für das ‚Andere’.
[...]
Was den externen Dialog angeht: [...] Meiner
Ansicht nach ist der notwendige Ausgangspunkt, dass sich jede Partei von
Anfang an aufrichtig zeigen muss, mit den Vorurteilen und Stereotypen,
die sie von den ‚Anderen’ haben. Danach muss es eine Selbstkritik dieser
Ideen und Ansichten geben. Bevor wir uns bei dem ‚Anderen’ über die
negative Art, mit der er uns wahrnimmt, beschweren, müssen wir uns
selbst beobachten und unsere falsche Vorstellung über die ‚Anderen’
korrigieren. [...]
Der Westen muss die Grundlage seiner
Wahrnehmung uns gegenüber überprüfen. Ebenso die Ideen, die über uns
seit der Periode des Orientalismus existieren, die auf einer Rezeption
aus dem Mittelalter basieren, wonach der Islam eine Religion der Gewalt
sei, die durch das Schwert verbreitet werde, und wonach die Muslime an
der modernen Zivilisation Rache nehmen und weder die Menschenrechte
akzeptieren noch die Rechte von Minderheiten garantieren, noch an die
Werte der Demokratie und der Toleranz glauben, und wonach sie sich nicht
anständig gegenüber Frauen verhalten. Ebenso sollte sich der Westen
zurückhalten, den Islam und die Muslime aufgrund des Verhaltens einer
kleinen Minderheit zu beurteilen. [...]
Zur gleichen Zeit müssen wir, die Muslime, uns
von weltweiten und westlichen Verschwörungstheorien uns gegenüber
verabschieden. Wir müssen uns vom Komplex der Kreuzzüge und des schweren
Erbes des Kolonialismus befreien. Wir müssen aufhören, den ‚Anderen’ als
einen Teufel zu sehen, der kolonialistische, imperialistische oder
globale Verschwörungen oder kulturelle Eroberungen uns gegenüber im
Sinne hat. Wir müssen aufhören zu denken, dass die Welt nichts anderes
zu tun hat, als sich gegen uns zu verschwören und uns, weil wir Muslime
sind, zu hassen. [...]
Man kommt nicht daran vorbei, die Mängel in
unserem sozialen Gefüge aufzudecken – in der Politik, in der Kultur, in
den Medien, im Erziehungswesen und im religiösen Curriculum der letzten
50 Jahre. [...]
Der nationalistische Diskurs: Diesem Diskurs
zufolge sabotierte der Westen die Renaissance der Araber und verhinderte
ihren Fortschritt; [der Westen] habe ihre Einheit durch die Besetzung
arabischer Länder und die Grenzziehungen verhindert, [...] ebenso
wie ihren Versuch, Demokratien zu errichten und ihre natürlichen
Ressourcen zu nutzen. [...]
Wie auch immer, eine faire und objektive
Betrachtung zeigt, dass, auch wenn der kolonialistische Westen einen
Teil der Verantwortung trägt, der Hauptteil der Verantwortung vor der
Tür der Araber selbst liegt. [...]
Die regionalen Staaten waren schon vor dem
Kolonialismus eine alte historische Tatsache. Als die Grenzen festgelegt
wurden, wurde mehr auf den Ausgleich zwischen den Stämmen als auf die
westlichen Interessen geachtet. Demokratie war noch nie mehr als ein
falscher Slogan in der Welt der Araber und hatte noch nie praktische
Folgen – weder innerhalb eines Regimes noch in der Opposition [...]
Darüber hinaus waren wir es, die unsere eigenen Ressourcen durch dumme
Politikführung und Kriege unter uns und gegen andere verschwendeten.
[...]
Der religiöse Diskurs: Ein beachtlicher Teil
des [islamischen] religiösen Diskurses ist von Begriffen wie ‚geistigem
Angriff’, ‚Weltverschwörung’, ‚Kampfhandlungen von Kreuzrittern’ und
‚andauernden Feindschaften gegenüber dem Islam und den Muslimen’
geprägt. Wie der nationale Diskurs stachelt auch der religiöse Diskurs
auf und mobilisiert. Er richtet sich immer gegen das fremde und das
lokale ‚Andere’. [...] Viele religiöse Rechtsgutachten werden erstellt,
um Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler der Häresie oder der
Sündhaftigkeit anzuklagen. [...]
Die westlichen Kirchen sind über den Komplex
der Kreuzzüge hinweg. Im Gegensatz dazu, leben unsere Geistlichen ihre
Bitterkeit über diese Kriege immer noch aus und fordern eine
vernichtende Niederlage des Westens. [...]
Der religiöse Diskurs muss korrigiert und
erneuert werden, [...] so dass er fähig wird, seine wahre Rolle von
Wissen und Aufklärung zu verbreiten und mit den nationalen
Grundproblemen so umzugehen, dass die einzelnen in der Gesellschaft
näher zusammenkommen und kein Hass gegenüber anderen gesät wird. [...]
Die Moscheen sind von Allah und sie dürfen nicht zu einer Arena für
politische und sektiererische Auseinandersetzungen werden. [...]
Der Mediendiskurs: Unsere Medien bedienen nur
uns selbst. Sie mobilisieren und hetzen die Menschen auf und lenken sie
von ihren wirklichen Problemen ab. Was sie mehr als alles andere
interessiert, sind negative Kommentare [über die Araber] durch das
westliche ‚Andere’. [...] Seit unsere Medien ausgiebig Huntingtons
Theorie über den ‚Kampf der Kulturen’ verbreiteten, wurde diese Theorie
äußerst populär und alle unsere Intellektuellen reagierten darauf. [...]
Unsere Medien haben die humane Alternative dazu vergessen – den ‚Dialog
der Kulturen’ –, den auch westliche Intellektuelle fordern. Und als
Berlusconi den Fehler machte, von der Überlegenheit der westlichen
Kultur zu sprechen, wurde dieser Ausrutscher bei uns aufgebauscht,
während seine Erklärung und Entschuldigung und sein Besuch eines
islamischen Zentrums unter den Tisch fielen. [...]
Der Diskurs über Erziehung: Unser Diskurs über
die Erziehung basiert auf der Verteidigung gegenüber dem ‚Anderen’ und
auf einer historischen Selbstüberschätzung. Die Gedanken eines Kindes
sind voll vom Ruhm und Triumph seiner Nation, während [im
Geschichtsunterricht] andere Länder kaum eine Rolle spielen. Ein
wichtiger Teil unseres Erziehungsdiskurses ist von anderen modernen
Gesellschaften völlig abgeschnitten und basiert auf einer
eindimensionalen Sichtweise, die eine eingeschränkte Mentalität und ein
leichtes Abrutschen in den Fanatismus hervorbringt. Sie befördert
falsche Vorstellung gegenüber Frauen und religiösen oder ethnischen
Minderheiten; wobei Methoden des Auswendiglernens und der Wiederholung
dominieren. [...]
Lasst uns daran arbeiten, geistige Energien zu
mobilisieren und sie auf das Gute der gesamten Menschheit zu lenken.