Warum-ich-meine-Meinung-über-Scharon-änderte-Anthologie:
Flucht aus dem Pferdestall
Kommentar von Yoel Marcus, Ha'aretz, 30.05.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Vor einer Woche sagte ich in meiner
Freitagskolumne, dass ich ein dickes Buch darüber schreiben könnte,
warum ich meine Meinung über Scharon mindestens 20 Mal geändert
habe. Diesen Freitag vollziehe ich zum 21. Mal eine
Meinungsänderung. Der große Zickzackläufer, der immer das Gegenteil
von dem tat, was er sagte und das Gegenteil von dem sagte, was er
tat, zeigt plötzlich eine politische Vision: Er ruft nach dem Ende
der Besatzung.
Der Gebrauch eines Wortes, das bisher kein
israelischer Premierminister vor ihm gebraucht hat und das nie auf
einem offiziellen Papier, das vom Staat Israel herausgegeben oder
unterschrieben wurde, zu sehen war, warf die Linken vom Hocker.
Scharon ist die letzte Person, von der sie je gedacht hatten, dass
sie sie links überholen würde. Er ist die letzte Person, von der
jemand erwartet hätte, dass sie ein Likudtreffen mit einer Menge von
Reportern und Fernsehkameras organisieren und dort genau sagen
würde, was Sache ist: dass die Zeit gekommen ist, das Land zu teilen
und einen palästinensischen Staat zu gründen; dass das Herrschen
über 3,5 Millionen Palästinenser schlecht für Israel, die Wirtschaft
und die Palästinenser ist; dass die Besatzung nicht unbegrenzt
fortgeführt werden kann. "Wollt ihr etwa in Bethlehem, Dschenin und
Nablus bleiben?" fragte er.
Selbst als Generalstaatsanwalt Elyakim Rubinstein
hervorhob, dass das Wort "Besatzung" nicht in unserem Wörterbuch
steht, sondern dass die richtige Bezeichnung "Umstrittene Gebiete"
lautet, selbst als Uzi Landau und seine Freunde protestierten, stand
Scharon zu seinem Wort. Ihr mögt das Wort nicht leiden können, sagte
er, doch es drückt aus, was es ist: Besatzung. Ein aufrichtiger
Scharon in Beilins Kleidern.
In privaten Konversationen und zur Verfolgung von
außenpolitischen Zielen hat Scharon oft darüber gesprochen, einen
palästinensischen Staat zu gründen. (In der Praxis, so sagt er,
existiert er ja bereits.) Im Zentralkomitee des Likud debattierte er
mit Netanyahu über dieses Thema und gewann. Doch Scharon blieb sich
treu, indem er das eine sagte und das andere tat.
Die amerikanische "roadmap" anzunehmen ist
natürlich ein riesiges Unternehmen, denn die "roadmap" besteht aus
mehr als nur leeren Worten. Sie präsentiert uns einen Zeitplan über
das, was wir wann zu tun haben, bis ein palästinensischer Staat
gegründet wird. Ein Vertrauter Scharons ärgert sich über diejenigen,
die die "roadmap" einen billigen Trick nennen. Hier gibt es ein
Ziel, sagt er. Seiner Meinung nach folgt Scharon den Fußstapfen
Ben-Gurions, der bitter um die Grenzen des Landes kämpfte und am
Ende in die Teilung einwilligte, um daraus das zu machen, was man
bekommen konnte. Unterm Strich gesagt: man soll nehmen, was man
bekommen kann, ohne dabei das Risiko einzugehen, eine Lösung
aufgesetzt zu bekommen oder die Verbindungen zu Amerika zu
zerreißen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist Scharon der
letzte Mapainik, sagt der Vertraute.
Scharon, der während seiner ganzen Karriere die
Schuld seinen Vorgesetzten auflud, hat mittlerweile entdeckt, dass
die Verantwortung vor seiner Tür stehen geblieben ist. Um es mit
seinen eigenen Worten zu sagen: "Von hier aus kann man Dinge sehen,
die man von dort aus nicht sehen kann." Doch bei einem schlauen
Fuchs wie Scharon ist nichts so einfach wie es erscheint. Es ist
keine Frage, dass er sorgfältig darum bemüht ist, Bush nicht auf die
Nerven zu gehen, da dieser in der Zeit vor den Wahlen genug Ärger
hat, weil keine Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden wurden und
weil die Lage dort immer komplizierter wird.
Bush sucht in unserer Nachbarschaft nach einem
schnellen Ausweg aus der Klemme. Es ist kein Zufall, dass in dem
Moment, in dem wir der "roadmap" zustimmten, die uns ja buchstäblich
aufgezwungen worden ist, der Präsident darauf drang, zwei Gipfel in
der Region auf den Plan zu bringen. Wir sprechen über einen
Zeitplan, der dazu bestimmt ist, Ende des Jahres einen temporären
palästinensischen Staat hervorzurufen. Und wenn Bush einen unter
Druck setzt, sollte man es sich nicht gemütlich machen.
Doch hinter diesem sichtbaren Motiv mag auch ein
verborgenes liegen: Scharon macht einen Reifungsprozess durch und
beginnt, die bittere Wahrheit zu verdauen, dass er ohne eine
politische Lösung den Terror nicht beseitigen und die
wirtschaftliche Lage nicht verbessern kann. Unter seinen
Zeitgenossen sind Peres, Dayan, Rabin und Weizman seine Vorbilder.
Diese waren allesamt Falken, die als Friedensstifter in die
Geschichte eingegangen sind. Als jemand, der in ihre Reihen
eintreten möchte, bereitet Scharon die öffentliche Meinung darauf
vor, Teile des Landes aufzugeben und die berühmten "schmerzhaften
Zugeständnisse" zu machen. Natürlich wird er letzten Endes an den
Ergebnissen gemessen werden.
In der
Warum-ich-meine-Meinung-über-Scharon-änderte-Anthologie gibt es
immer noch Platz für Änderungen. Zum Beispiel für die Möglichkeit,
dass Scharon uns tatsächlich nur übers Ohr hauen möchte. Doch selbst
wenn er die Gelegenheit für eine Ausrede bekommen sollte, die
Territorien nicht zu verlassen, macht das im Grunde nicht viel aus.
Denn dem, was er diese Woche gesagt hat, kann er nicht entfliehen.
Dadurch, dass er erklärte, es gäbe keine andere Lösung als die der
Beendigung der Besatzung und der Teilung des Landes, hat er eine
Vision geschaffen, die uns dem Frieden und der Ruhe einen Schritt
näher bringt.
Selbst wenn er es nicht so gemeint haben sollte,
selbst wenn er es bedauern sollte, selbst wenn er wieder beginnt
sein altes Lied zu singen, so ist doch das Pferd aus dem Stall
geflohen, und wir werden es nicht wieder dahin zurückbringen können.
hagalil.com
30-05-2003 |