Inzwischen ist allen klar, dass Yassir
Arafat und seine ihm nahestehenden Gefährten hinter diesem Abkommen
stehen...
Plötzliches Interesse:
Das Genfer Abkommen aus palästinensischer Sicht
Kommentar von Danny Rubinstein, Ha'aretz,
15.10.2003
Übersetzung Daniela Marcus
Die palästinensischen Medien, die das Genfer
Abkommen (oder die "Schweizer Vereinbarung" wie es von einigen
palästinensischen Sprechern auch genannt wird) bis dato beinahe
völlig ignoriert haben, begannen gestern damit, dem Thema
auffallende Aufmerksamkeit zu widmen.
Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens haben Ariel
Sharon, Ehud Olmert und andere israelische Regierungsminister Yossi
Beilin und seine Kollegen deswegen scharf angegriffen. Wenn dieses
Abkommen Sharon so sehr verärgert, dann fragen sich die
Palästinenser sofort, ob es vielleicht von ihrer Perspektive aus
gesehen etwas positives hat. Die Mehrheit der palästinensischen
Öffentlichkeit betrachtet den Nahostkonflikt inzwischen als
Nullsummenspiel. Wenn dieses Abkommen schlecht für Sharon ist, muss
es also gut für sie selbst sein.
Ein weiterer Grund für das hohe palästinensische
Interesse an diesem Abkommen liegt darin, dass sich Beilin und
Yassir Abed Rabbo in Kairo mit dem ägyptischen Außenminister Ahmed
Maher und dem Berater des Präsidenten, Osama al-Baz, getroffen
haben. Bilder des Treffens wurden in der palästinensischen Presse
veröffentlicht. Und wenn die Ägypter diese Sache so ernst nehmen,
kann die palästinensische Öffentlichkeit sie nicht ignorieren.
Der dritte Grund für das Interesse betrifft
Berichte darüber, welche palästinensischen Persönlichkeiten an den
Verhandlungen beteiligt waren. Darunter sind drei frühere Minister
–Abed Rabbo, Hisham Abdel Razeq und Nabil Kassis- und Mitglieder der
jungen Garde von Fatah und Tanzim, nämlich Kadoura Fares und
Mohammed Khourani (beide sind Mitglieder des palästinensischen
gesetzgebenden Rates und beide gelten als Anhänger Marwan
Barghoutis). Außerdem waren Experten und Sicherheitsleute aus den
obersten Reihen des palästinensischen Establishments bei den
Gesprächen anwesend. Mit anderen Worten: die palästinensische
Öffentlichkeit versteht, dass dies nicht nur eine von mehreren
"privaten" Initiativen ist, die es nicht geschafft haben, weit zu
kommen, wie zum Beispiel die Initiative "Volkes Stimme" von Sari
Nusseibeh und Ami Ayalon. Nein, dieses Genfer Abkommen ist etwas
wesentlich ernsteres.
Inzwischen ist allen klar, dass Yassir Arafat und
seine ihm nahestehenden Gefährten hinter diesem Abkommen stehen.
Einige der genannten palästinensischen Persönlichkeiten gehen keinen
einzigen Schritt ohne Arafats Genehmigung. Doch Spekulationen sind
hier nicht nötig. Wir können Abed Rabbo sicher glauben, wenn er
ausdrücklich sagt, dass er bezüglich dieser Verhandlungen den Segen
von Arafat, Mahmoud Abbas und Ahmed Kureia hatte. Wir können auch
den ranghohen Palästinensern glauben, die sagen, dass es keine
offizielle palästinensische Stellungnahme geben wird, weil die
israelische Seite von Privatpersonen ohne offiziellen Status
vertreten wurde, und so muss sich die palästinensische
Autonomiebehörde entsprechend verhalten.
Dass Beilin und Abed Rabbo an solch einem Abkommen
arbeiten, war bekannt. Was nun neu ist, ist einmal der dramatische
Schritt, dieses Abkommen an die Öffentlichkeit zu tragen, und die
vollkommene Unterstützung, die Arafat und seine Leute diesem
Abkommen geben. Warum tun sie das? Sharon, Olmert und die anderen,
die sich über Beilin ärgern, sagen, dies sei unter anderem deshalb,
weil Arafat seine eigene Haut retten möchte. In Arafats
Hauptquartier in Ramallah war letzte Woche jeder davon überzeugt,
dass der Aufruf von israelischen Reservisten, der in Israel breit
diskutiert wurde, Teil einer Vorbereitung für eine große
Militäraktion sei, um die Mukata in Ramallah einzunehmen. Arafat,
der krank und in endlosem Gerangel um die Zusammensetzung der neuen
Regierung verstrickt ist, war somit sehr ängstlich (sagt diese
Version) und entschied sich für die Flucht nach vorn, um durch eine
dramatische Initiative den israelischen Angriff zu verhindern.
Das mag wahr sein, doch dies erklärt die Genfer
Vereinbarung nicht für nichtig. Yitzchak Shamir, Angehöriger der
Likudpartei und im Jahr 1991 Israels Ministerpräsident, verstand
sehr gut, warum Arafat seinen Leuten damals erlaubte, die
Madridkonferenz zu besuchen, die die Ära des Friedensprozesses
einläutete. Infolge des (ersten) Golfkrieges und Arafats
Unterstützung für Saddam Hussein, hatten westliche Länder aufgehört,
Arafat Geld zu überweisen. Die PLO war isoliert und abgelehnt. Sie
war beinahe dabei, völlig unterzugehen. Arafat und die PLO-Führung
(durch Israel einem Embargo unterworfen) entschieden, wer die
Westbank und den Gazastreifen bei der Madridkonferenz repräsentieren
würde. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ihre
Bereitschaft, nach Madrid zu kommen, die PLO rettete.
Man kann also sagen, dass Arafat sich der
Oslovereinbarung fügte, weil er in Schwierigkeiten steckte. Genauso
kann man auch sagen, dass der ägyptische Präsident Sadat bereit für
den Friedensvertrag mit Israel war, weil er in Schwierigkeiten
steckte. So sehen die Spielregeln in der Politik aus.
Was auch immer Arafat und sein Volk motiviert hat,
das Genfer Abkommen zu unterstützen, die Hauptsache bleibt, dass
dieses Abkommen die Möglichkeit zur Erreichung einer Vereinbarung
fördern könnte.
hagalil.com
15-10-2003 |