Ein Jahr Intifadah
und sieben Monate nach Taba
Verpasster Frieden
Von ALAIN GRESH
DIE Frage der palästinensischen Flüchtlinge ist von
zentraler Bedeutung in den israelisch-palästinensischen Beziehungen.
Eine umfassende und gerechte Lösung dieses Problems wird entscheidend
sein für die Herstellung eines dauerhaften und moralisch vertretbaren
Friedens. [. . .] Der Staat Israel erklärt feierlich sein Bedauern über
die Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge, ihr Leiden und ihre
Verluste; er wird sich bei dem Bemühen, dieses vor 53 begonnene
schreckliche Kapitel der Geschichte zu schließen, als aktiver Partner
erweisen [. . .]"
Taba, ein kleiner Badeort am
Golf von Akaba, Anfang des Jahres 2001. In dieser Enklave von nur einem
Quadratkilometer, die 1988 von Israel an Ägypten zurückgegeben wurde,
sind nach langem Tauziehen um Formalien Vertreter Israels und der
Palästinenser in Klausur gegangen, um die "Rettung des
Friedensprozesses" zu versuchen. Ein Palästinenser liest das Dokument,
das seiner Delegation soeben übermittelt worden ist, und er kann kaum
glauben, was da steht. "Obwohl der im Entstehen begriffene Staat Israel
die Resolution 181 der UN-Vollversammlung vom November 1947 [die den
Vorschlag einer Teilung Palästinas in einen jüdischen und arabischen
Staat vorsah] akzeptiert hatte, wurde er in das Blutvergießen und den
Krieg von 1948/49 verwickelt, der für beide Seiten Leiden und Opfer mit
sich brachte, darunter den Verlust von Heimat und Eigentum für jene
Teile der palästinensischen Zivilbevölkerung, die zu Flüchtlingen
wurden. [. . .] Konsequenz einer gerechten Regelung des
Flüchtlingsproblems, in Übereinstimmung mit der Resolution 242 des
UN-Sicherheitsrats, muss die Umsetzung der Resolution 194 der
UN-Generalversammlung sein. [. . .]"
Der palästinensische Delegierte erinnert sich heute:
"Als ich an jenem 23. Januar das Dokument las, war ich gespalten -
einerseits Freude über diesen bedeutenden Durchbruch in den
Verhandlungen, andererseits Trauer, weil ich überzeugt war, dass er zu
spät kam." Tatsächlich gesteht Israel in diesem Text erstmals seine
Mitverantwortung an der Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge ein
und erklärt sich bereit, an einer Lösung des Problems mitzuwirken. Mehr
noch: Diese Bemühungen sollen zur Umsetzung jener Resolution 194 vom
Dezember 1948 führen, die seit damals in der UN-Vollversammlung jährlich
erneuert wurde und in der es heißt: "Allen Flüchtlingen, die dies
wünschen, muss so rasch wie möglich Gelegenheit gegeben werden, an ihre
Wohnorte zurückzukehren und dort in Frieden mit ihren Nachbarn zu
leben." Aus diesem israelischen Dokument (siehe
Le Monde diplomatique p.9) wie aus anderen Texten und aus
Gesprächen mit Beteiligten wird deutlich, welche Fortschritte in den
Monaten der Verhandlungen nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels im
Juli 2000 erzielt wurden.
Doch alle Anwesenden in Taba wussten, dass Ehud Barak
bei den vorgezogenen Wahlen am 6. Februar keine Chance hatte - nach den
Meinungsumfragen lag er über 20 Prozent hinter dem Hardliner Ariel
Scharon zurück.
SIEBEN Monate später
scheint der Graben zwischen den beiden Völkern tiefer denn je und der
Frieden so unerreichbar wie nie. Die Repressionsmaßnahmen gegen die
Palästinenser sind beispiellos hart, und täglich wächst die Zahl der
Toten und Verletzten, der zerstörten Häuser und verwüsteten Felder. Was
von der Autonomie der Palästinenser noch übrig ist, wird durch die
Vorstöße der israelischen Armee weiter ausgehöhlt. Am schlimmsten ist
die Abriegelung von Städten und Dörfern, die, wenngleich weniger
spektakulär als die Raketenangriffe mit F-16-Flugzeugen, die verelendete
palästinensische Bevölkerung in ihren Enklaven buchstäblich einsperrt.
Misshandlungen, Folter (sogar an Kindern (1)),
Mordanschläge auf Vertreter der Autonomiebehörde und tagtägliche
Demütigungen an den israelischen "Kontrollpunkten" - trotz all dieser
Schrecken werden die Palästinenser von der internationalen Gemeinschaft
allein gelassen. Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass der
Rückhalt, den die Hamas und andere islamistische Gruppen in der
palästinensischen Bevölkerung genießen, innerhalb des letzten Jahres nur
von 15 auf 25 Prozent gestiegen ist.
Auf der anderen Seite regiert die Angst, genährt durch
immer neue Selbstmordattentate. Wer aus dem Haus geht, fürchtet um sein
Leben und das seiner Kinder. Wieder einmal fühlen sich die Israelis -
trotz aller militärischen Überlegenheit - eingekreist. Wie konnte es so
weit kommen, wo man noch Anfang 2001, in Taba, einem Friedensabkommen so
nahe war?
Eine große Mehrheit der Israelis teilt die Ansicht, dass
Jassir Arafat beim Gipfel in Camp David im Juli 2000 ein "großzügiges
Angebot" Israels zurückgewiesen und damit, wie es Barak formulierte,
"sein wahres Gesicht gezeigt" hat. Dass die Palästinenser nach wie vor
Arafat stützen, zeige demnach, dass sie schon immer nur eines im Sinn
hatten: Israel zu vernichten.
Gab es wirklich ein "großzügiges Angebot"? Nach welchen
Kriterien? Jedenfalls nicht nach denen des Völkerrechts, dessen
Bestimmungen von Israel nach wie vor verlangen, sich aus den 1967
besetzten Gebieten zurückzuziehen und dort sämtliche Siedlungen
aufzugeben, auch den Siedlungsgürtel um Ostjerusalem. Schon die Formel
"großzügiges Angebot" gibt zu denken. Das ist die Sprache des Siegers,
der erwartet, dass der Besiegte sich beugt, worin die Vorstellung
steckt, dass der Starke dem Schwachen den Frieden diktieren kann. Über
Monate hatten die internationalen Medien nach Kräften versucht, den
Palästinensern die Schuld am Scheitern des Gipfels zuzuschieben. Ein
Jahr später wissen wir Genaueres über das Treffen in Camp David, und es
wird deutlich, wie unredlich das israelische Angebot war.(2)
Der Staat, den Ministerpräsident Barak den
Palästinensern damals zugestehen wollte, hätte nur über eine äußerst
eingeschränkte Souveränität verfügt. Die Bevölkerung hätte sich im
Alltag weiterhin der Besatzungsmacht fügen müssen. 9,5 Prozent des
Westjordanlands sollten annektiert und etwa 10 Prozent - im Jordantal -
"langfristig" an Israel verpachtet werden. Das Westjordanland wäre auf
diese Weise praktisch durch zwei große Siedlungsblöcke in drei Teile
zerschnitten worden, darüber hinaus sollte ein territorialer Korridor
den direkten Zugang von Israel nach Kiriat Arba und ins Zentrum von
Hebron sichern. Israel hätte die Kontrolle über die Grenzen Palästinas
zu den Nachbarstaaten behalten. In der Flüchtlingsfrage gab es keinerlei
Lösungsvorschläge. Immerhin zeigte sich Barak in einem Punkt beweglich:
Er war bereit, mit einem unerschütterlichen Grundsatz israelischer
Politik zu brechen und erstmals Gespräche über die Teilung des "einen
Jerusalem" anzubieten, das seit 1967 als die "ewige Hauptstadt" Israels
gilt. Die Stadt hätte gemeinsame Hauptstadt beider Staaten werden
können, wobei noch offen blieb, wem welche Teile zustehen sollten.
Doch in Camp David kam der Dialog nicht recht in Gang.
Barak wollte nicht mit Arafat unter vier Augen verhandeln, und auch der
Palästinenserführer misstraute seinem Gesprächspartner. Schließlich
hatte Barak ein Jahr lang nichts getan, um die Verhandlungen mit den
Palästinensern voranzubringen, und stattdessen eine erfolglose
Annäherung an Syrien versucht. Und hatte er nicht die dritte Phase des
Truppenrückzugs aus dem Westjordanland, die er einst zugesichert hatte,
auf unbestimmte Zeit ausgesetzt? Zudem hatte sich Barak geweigert, drei
Ortschaften am Stadtrand von
Jerusalem
(Abu Dis,
Al-Eisaria und Sauwahra) der Autonomiebehörde zu übergeben,
obwohl sogar sein Kabinett und das Parlament diese Maßnahme bereits
abgesegnet hatten.
Die israelischen Vorschläge in Camp David offenbaren
eine sehr eigenwillige Vorstellung von Frieden und der Auslegung der
Osloverträge. Für Israel scheint es selbstverständlich, dass die Rechte
der Palästinenser (auf Menschenwürde, bürgerliche Freiheiten,
Sicherheit, nationale Unabhängigkeit usw.) hinter den Rechten der
Israelis zurückstehen müssen. Die Verträge von Oslo waren bekanntlich
keine Vereinbarung zwischen gleichrangigen Partnern mit gleichen Rechten
und Pflichten, sondern ein Abkommen zwischen Besatzern und Besetzten.
Und seither hat die Besatzungsmacht, mit Rückendeckung der USA, in jeder
Phase der Verhandlungen versucht, ihren Standpunkt kompromisslos
durchzusetzen. Seit September 1993 sind ein Dutzend Verträge
unterzeichnet worden, doch die darin eingegangenen Verpflichtungen hat
Israel nur in sehr eingeschränktem Maße und wenn, dann meist nur mit
großer Verzögerung erfüllt. "Kein Termin ist sakrosankt", hatte Jitzhak
Rabin einst erklärt. Diese immer neuen Verzögerungen zehrten die Geduld
der Palästinenser zunehmend auf.
Trotz allem und gegen alle Wahrscheinlichkeit hat die
palästinensische Bevölkerung über Jahre an die Verheißung von Freiheit
und Unabhängigkeit geglaubt. Der Einfluss radikaler und islamistischer
Gruppierungen blieb lange bescheiden. Doch nun - ein Jahr nach dem
Ablauf der "Übergangsperiode", die in den Osloverträgen für die
Autonomiebehörde festgelegt war - haben die israelischen Vorschläge in
Camp David deutlich gezeigt, dass Israel nicht daran denkt, die
Herrschaft über die Palästinenser aufzugeben. Zumal der Ausbau der
Siedlungen unaufhaltsam voranschreitet.
Zweifellos war Barak in Camp David von Arafats
ablehnender Haltung überrascht. Da für Barak nicht das Völkerrecht der
entscheidende Maßstab war, sondern die Haltung der politischen Klasse in
Israel, musste er seine Vorschläge für sehr weitgehend halten und
erwarten, dass sich die Palästinenser dem Druck wieder einmal beugen
würden. Arafat dagegen war sich über eines im Klaren: Auf Konzessionen
hinsichtlich eines Interimsabkommens konnte er sich einlassen, doch die
"endgültige Lösung" musste unbedingt die Vorgaben der Resolution 242 des
UN-Sicherheitsrats erfüllen, in der die Beendigung der Besetzung des
Westjordanlands, des Gazastreifens und Ostjerusalems gefordert wird.(3 )
Doch in Camp David waren die Israelis offenbar so überzeugt von ihrer
Überlegenheit, dass sie dafür kein Verständnis aufbrachten . . .
In Palästina hatte Arafat mit seiner Beharrlichkeit in
Grundsatzfragen die gesamte Öffentlichkeit auf seiner Seite. Die Formel
"Land gegen Frieden" wurde hier unzweifelhaft ernst genommen. Der Gipfel
war somit partiell gescheitert. Die Verhandlungen gingen weiter,
Teilerfolge schienen möglich. Doch die palästinensische Bevölkerung
verlor langsam die Geduld. Eine Idee israelischer Wahlkampfstrategen war
der Funke, der die Explosion auslöste: der provokative Auftritt Scharons
auf dem Tempelberg am 28. September 2000. Ministerpräsident Barak, der
in Scharon einen leichtgewichtigeren Rivalen sah als in dessen
Konkurrenten Netanjahu, hatte diese Aktion nicht verhindert, weil er
hoffte, Scharon könne damit seine Position als Führer des Likud stärken.
Die Palästinenser allerdings begriffen den "Besuch"
Scharons im muslimischen "heiligen Bezirk" schlicht als Provokation.
Obwohl bei den anfänglichen Auseinandersetzungen in Jerusalem von
palästinensischer Seite keine Waffen eingesetzt wurden, schlugen die
israelischen Sicherheitskräfte zurück. Innerhalb von drei Tagen gab es
30 Tote und rund 5 000 Verletzte. Daraufhin begannen die Palästinenser
nach sieben Jahren der Hinhaltung und enttäuschten Hoffnungen eine
Volkserhebung, deren Hauptforderung die sofortige Beendigung der
Besetzung war.
In Untätigkeit verstrickt
OBWOHL diese Eruption von
Israel ausgelöst wurde, trug auch die palästinensische Führung zur
chaotischen Entwicklung bei. Die Leiter der Autonomiebehörde, geprägt
von Arafats autoritärem Regiment, gelähmt durch die Diadochenkämpfe um
seine Nachfolge und verstrickt in ein Netz von Korruption,
demonstrierten viele Monate eine fatale Untätigkeit.(4 ) Man erkannte
nicht, welche Gefahr ein Wahlsieg Scharons darstellte; erst in letzter
Stunde begann man die arabischen Wähler in Israel - die noch unter dem
Schock der harten Repressionsmaßnahmen vom Oktober 2000 standen - gegen
Scharon zu mobilisieren. Die palästinensische Führung erwies sich als
unfähig, ihre Ziele klar zu formulieren, eine Strategie zu entwickeln
oder der israelischen Desinformationskampagne nach dem Camp-David-Gipfel
mit einer eigenen Informationspolitik entgegenzutreten. Überdies
bestärkte sie israelische Befürchtungen, indem sie unbedachte
Erklärungen zum "Recht auf Rückkehr" aller palästinensischen Flüchtlinge
abgab und anzweifelte, dass der Tempelberg für die Juden ein geheiligter
Ort sei. Arafat war überzeugt, dass bei den Verhandlungen ohnehin die
USA die Fäden in der Hand hielten, übersah dabei jedoch einen wichtigen
Umstand: Ohne Zustimmung der israelischen Öffentlichkeit kann es keinen
Friedensvertrag geben.
Die ernsten Vorwürfe, die man gegen die Autonomiebehörde
erheben kann, dürfen nicht dazu dienen, den Palästinensern die Rechte
abzusprechen, die die UN-Resolutionen ihnen zusichern. Schließlich hat
man 1990 auch nicht gewartet, dass in Kuwait demokratische Verhältnisse
einkehren, bevor man die Beendigung der irakischen Besetzung forderte.
Henry Siegman, Forschungsbeauftragter beim Council of Foreign Relations,
weist darauf hin, dass die Zurückweisung eines israelischen Vorschlags
durch Jassir Arafat, selbst wenn man sie für ungerechtfertigt hält,
"nicht den von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Anspruch der
Palästinenser auf das Westjordanland und den Gaza-Streifen aufhebt".(5)
Ministerpräsident Barak hatte erklärt, man müsse seine
Vorschläge "ganz oder gar nicht" annehmen. Dennoch musste er seine
definitiven "roten Linien" ein ums andere Mal zurückverlegen und neu
ziehen. Wäre er dazu auch ohne den Druck der Intifada bereit gewesen?
Ami Ayalon, ehemaliger Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes
Schin Beth, meint dazu: "Die Palästinenser haben gelernt, dass Israel
nur die Sprache der Gewalt versteht." Aber die PLO hat auch bewiesen,
dass sie sich flexibel verhalten kann, solange die Minimalinteressen
ihres Volkes gewahrt bleiben.
Das Treffen in Taba, im Januar 2001, führte zu einer
Annäherung zwischen den Palästinensern und den Emissären Baraks, die in
früheren Verhandlungen nie erreicht worden war. In ihrer gemeinsamen
Abschlusserklärung vom 27. Januar 2001 versichern beide Seiten, man sei
einem Friedensvertrag noch nie so nahe gewesen. Und die in Taba
erarbeiteten Dokumente zu den vier entscheidenden Bereichen
(Territorium, Jerusalem, Sicherheit, Flüchtlinge) sowie die Äußerungen
prominenter Verhandlungsteilnehmer(6 )bestätigen diese Aussage.
Die beiden Seiten hatten sich vor allem darauf geeinigt,
dass - in Übereinstimmung mit der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats
- als Grundlage für die endgültige Festlegung der Grenzen die
Waffenstillstandslinien vom 4. Juni 1967 dienen sollten und Israel für
jede Annexion palästinensischen Territoriums Entschädigung leisten
würde. Nach dem Vorschlag der israelischen Delegation sollten 94
Prozent(7) des Westjordanlands zurückgegeben werden (ein Territorium,
auf dem 20 Prozent der jüdischen Siedler leben). Um die "fehlenden" 6
Prozent auszugleichen, sollte das Äquivalent von 3 Prozent an
israelischem Territorium abgetreten werden; die restlichen 3 Prozent
sollten mit dem "sicheren Korridor" zwischen dem Westjordanland und dem
Gaza-Streifen abgegolten werden, der aber nicht palästinensischer
Souveränität unterstehen sollte. Israel verzichtete damit - gemessen an
seinen Camp-David-Vorschlägen, auf das Jordantal, auf Schilo, den
Ostteil von Ariel und auf einige isoliert gelegene Ansiedlungen wie
Kedumim und Beit El, sowie auf ein Gebiet im Norden der Siedlung Modim
(in dem 50 000 Palästinenser lebten). Überdies war man sich einig über
den Abzug der Siedler aus dem Stadtzentrum von Hebron und die Auflösung
der Siedlung Kiriat Arba.
Die palästinensische Delegation bestand allerdings auf
einer "hundertprozentigen" Rückgabe des Territoriums, und zwar mit
folgender Begründung; "In einem Gefängnis sind 95 Prozent des Raums für
die Gefangenen gedacht - Zellen, Aufenthaltsräume, Sporthalle,
Krankenstation usw. Aber den Wärtern genügen die übrigen 5 Prozent, um
die Gefangenen unter Kontrolle zu halten."(8 )Man war bereit, im
Austausch gegen gleichwertiges Territorium auf 2 Prozent des
Westjordanlands zu verzichten (Gebiete in denen etwa 65 Prozent der
Siedler leben), aber Israel bot dafür nur ein paar Sanddünen bei Helutza
in der Negevwüste. Beide Seiten wollten die Vereinbarung rasch umsetzen
- die Palästinenser dachten an achtzehn Monate, Israel an drei Jahre.
Jerusalem sollte ungeteilt bleiben und die gemeinsame
Hauptstadt beider Staaten werden. Jossi Sarid, Vorsitzender der linken
Meretz-Partei, der auch in Camp David dabei gewesen war, meint dazu:
"Wir waren uns über die Grundzüge der Aufteilung einig, und zwar im
Rahmen des Clinton-Plans(9). Wir sollten die jüdischen Viertel erhalten,
die arabischen Viertel sollten an die Palästinenser gehen." Während die
Palästinenser die Souveränität über den heiligen Bezirk (Haram
asch-Scharif) der Moscheen forderten, der auf dem Tempelberg liegt,
wollten die Israelis die Hoheitsrechte an dessen ganzer westlicher
Flanke (wo sich die Klagemauer befindet). Verschiedene Vorschläge wurden
geprüft, darunter auch die Idee, den gesamten Komplex für eine
befristete Zeit unter die Oberhoheit des UN-Sicherheitsrats und Marokkos
zu stellen.
Auch bei den Sicherheitsfragen gab es eine Annäherung
der Standpunkte: Die Palästinenser stimmten einer Rüstungskontrolle in
ihrem Staat zu und unter bestimmten Bedingungen auch der Einrichtung
israelischer Frühwarnstationen am Jordan. Mit der Stationierung einer
internationalen Beobachtertruppe an den Grenzen waren beide Seiten
einverstanden.
Als besonders heikles Problem erwies sich erneut das
Schicksal der 3,7 Millionen palästinensischen Flüchtlinge, die verstreut
in Jordanien, Syrien, dem Libanon und den Autonomiegebieten leben. Über
diese Frage hatte es nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels mehrfach
polemische Auseinandersetzungen gegeben. Der französische Korrespondent
Charles Enderlin meint dazu: " . . . die Palästinenser hätten diese
historische Forderung der PLO nur dann zurücknehmen können, wenn sie
dafür einen lebensfähigen Palästinenserstaat, mehr oder weniger das
ganze Westjordanland und den Gaza-Streifen, sowie den arabischen Teil
Jerusalems als Hauptstadt erhalten hätten."(10)
Die Verhandlungen in Taba bestätigen seine Einschätzung.
Man war sich einig, dass eine gerechte Lösung nach Maßgabe der
UN-Resolution 242 zur Umsetzung der Resolution 184 der
UN-Vollversammlung führen müsse, und hatte auf dieser Grundlage konkrete
Lösungsvorschläge erarbeitet. Den Flüchtlingen sollten fünf Alternativen
angeboten werden: Rückkehr nach Israel, Rückkehr in an die Palästinenser
abgetretene israelische Gebiete, Rückkehr in den Palästinenserstaat,
endgültige Ansiedlung am derzeitigen Wohnort (Jordanien, Syrien usw.),
sowie Ausreise in ein anderes Land (einige Staaten, darunter Kanada,
signalisierten ihre Bereitschaft, größere Kontingente palästinensischer
Einwanderer aufzunehmen). Die Vertreter der palästinensischen Seite
bestanden auf dem freien Entscheidungsrecht der Palästinenser, machten
aber zugleich deutlich, dass sie den jüdischen Charakter des Staates
Israel nicht in Frage stellen wollten. Diese Zusicherung war bereits
1988 bei der Unabhängigkeitserklärung gegeben worden.
Nach Aussage von Jossi Sarid hatte die palästinensische
Seite sogar zugestanden, dass "die letzte Entscheidung über die Rückkehr
von Flüchtlingen nach Israel bei den israelischen Stellen liegt". Israel
erklärte sich bereit, zusätzlich zu den "Familienzusammenführungen"
weitere 40.000 Rückkehrer innerhalb von fünf Jahren aufzunehmen. Den
Palästinensern jedoch erschien jedes Angebot unterhalb von 100.000
Flüchtlingen inakzeptabel. Wie der palästinensische Informationsminister
Jassir Abed Rabbo berichtet, war die Einigung über diese Zahl
tatsächlich die letzte Hürde vor einer Vereinbarung. Beide Seiten waren
sich auch einig darüber, dass die Hilfe für die Flüchtlinge im Libanon
oberste Priorität hatte. Im dem bereits zitierten israelischen Dokument
heißt es sogar: "Der Staat Israel erkennt seine moralische Verpflichtung
an, an einer baldigen Lösung für die schwierige Lage der Flüchtlinge in
den Lagern Sabra und Schatila mitzuwirken."
Geplant war auch die unverzügliche Einrichtung eines
internationalen Hilfsfonds und einer internationalen Kommission, um die
Entschädigung der Flüchtlinge in die Wege zu leiten. Zudem einigte man
sich darauf, dass die Frage der Entschädigung jener Juden, die aus
arabischen Ländern nach Israel ausgewandert waren, nicht Gegenstand
dieser bilateraler Verhandlungen sein solle.(11)
Doch bei allen Fortschritten wussten beide Seiten, dass
die Zeit abgelaufen war: die israelischen Wahlen waren bereits
entschieden. "Hätten die Wahlen erst im Mai stattgefunden, wären wir
innerhalb von zwei oder drei Wochen zur Unterzeichnung gekommen", meint
Jassir Abed Rabbo. Jeder wusste, dass nach einer zu erwartenden
Wahlniederlage Baraks alle Vereinbarungen, die man in Taba treffen
konnte, zurückgenommen werden würden. Nach Abed Rabbo fehlte zudem die
Zeit, einen Vertrag auszuarbeiten, "und eine bloße
gemeinsame
Erklärung hätte nichts bedeutet - ein solcher Text hätte keinen
verbindlichen Charakter besessen".
Zudem hatte die palästinensische Seite das Problem, wie
man der eigenen Öffentlichkeit die neuerliche Konzession verkaufen
sollte, die ja ohne konkrete Gegenleistung bleiben würde, wenn sich der
neue Ministerpräsident Scharon an eine einfache Erklärung nicht gebunden
fühlen würde. Auch die Idee, ein Gipfeltreffen zwischen Arafat und Barak
unter dem Motto "Die letzte Friedenschance" anzuberaumen, wurde nach
kurzer Erwägung verworfen.
Damit der Ertrag der vorangegangenen Monate nicht völlig
verloren ging, beauftragten beide Seiten den Sondergesandten der EU,
Miguel Angel Moratinos, der die Verhandlungen verfolgt hatte, mit einem
Schlussbericht - zweifellos für die Archive der Historiker, aber auch im
Hinblick auf einen möglichen zukünftigen Verhandlungstisch.
Was die aktuelle Lage betrifft, so muss es heute zwar
vor allem darum gehen, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, was
vorerst nur zivile internationale Missionen leisten können. Doch
letztlich kann allein eine politische Lösung aus dem tödlichen Kreislauf
herausführen. Daran haben
Anfang Juli in einer mutigen gemeinsamen Erklärung
Persönlichkeiten aus beiden Lagern erinnert: palästinensische Minister
(Jassir Abed Rabbo, Nabil Amr, Hischam Abdul Razzek) und Intellektuelle
(Hanan Aschrawi, Sari Nuseibeh, Salim Tamari) wie auch der frühere
israelische Justizminister Jossi Beilin und israelische Schriftsteller
(Amos Oz, A. B. Yehoshuah, David Grossman).
In dieser Erklärung heißt es: "Wir, Israelis und
Palästinenser, kommen in einer für unsere beiden Völker äußerst
schwierigen Situation zusammen, um ein Ende des Blutvergießens, das Ende
der Besetzung und die unverzügliche Wiederaufnahme von Verhandlung und
Friedensbemühungen zu fordern. [. . .] Den Konflikt zwischen unseren
Völkern durch Verhandlungen zu lösen ist möglich. [. . .] Um
Fortschritte zu erzielen müssen das internationale Recht und die
Anwendung der Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats akzeptiert
werden. Auf diese Weise kann eine Lösung gefunden werden, die ausgehend
von den Grenzen von 1967 zwei Staaten ermöglicht, die nebeneinander
bestehen und deren gemeinsame Hauptstadt Jerusalem ist."
Die einzige andere Option ist, wie alle wissen, ein
wahrer Albtraum: die fortgesetzte Eskalation, die in eine regionale
Auseinandersetzung münden muss, und ein Krieg, der nur Verlierer kennen
würde.
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Siehe dazu die Recherchen von Joseph Algazi,
in Haaretz und in der International Herald Tribune (Paris)
vom 20. August 2001.
(2) Im Unterschied zu den Palästinensern ließ die israelische Delegation
während des Gipfels immer wieder gezielt Informationen an die
Medienvertreter durchsickern. Als sie am Ende eine Art offizielle
Version vom Verlauf des Gipfels in die Welt setzten, wurde diese
zunächst von den israelischen, später von den meisten westlichen Medien
übernommen. Siehe Aluf Benn, "The Selling of a Summit", Haaretz
vom 26. Juli 2001. Erst nach einem Jahr veröffentlichten die
Palästinenser ihre Sicht der Dinge in einem sehr detaillierten Bericht,
der wesentlich plausibler scheint als die Version vom "großzügigen
Angebot". Siehe dazu Akiva Eldar, "What Went Wrong at Camp David : The
Official PLO Version", Haaretz
vom 24. Juli 2001.
(3) Palestine Report, 1. Februar 2001,
www.jmcc.org.
(4) Die schärfste Kritik aus dem eigenen Lager stammt von Yezid Sayigh,
einem in London lebenden palästinensischen Intellektuellen, der auch als
Berater der palästinenischen Delegation bei den offenen
Friedensverhandlungen in Madrid (Oktober 1991) tätig war. Siehe "Arafat
and the Anatomy of a Revolt", Survival, London (The International
Institute for Strategic Studies), Bd. 43, Nr. 3, Herbst 2001.
(5) Henry Siegman, "Middle East Conflict: Seek Palestinian Confidence in
What?", International Herald Tribune vom 17. Juli 2001.
(6) Geführt wurde die Delegation vom Präsidenten des palästinensischen
Legislativrats, Abu Ala, und vom israelischen Außenminister Schlomo
Ben-Ami. Die Delegationsmitglieder waren auf palästinensischer Seite
Nabil Chaath, Saeb Erakat, Jassir Abed Rabbo, Hassan Asfur, Mohamed
Dahlan, und auf israelischer Seite Yossi Beilin, Amnon Lipkin-Schahak,
Gilad Scher, Israel Hassun und Jossi Sarid.
(7) Über diese Prozentzahlen lässt sich allerdings streiten. Darin sind
weder die 72 Quadratkilometer von Ostjerusalem (1,3 Prozent des
Westjordanlands) enthalten, noch die ebenfalls von Israel annektierte
entmilitarisierte Zone (vor allem im Gebiet von Latrun), die 1,8 Prozent
des Westjordanlands ausmacht.
(8) Akiva Eldar, "What Went Wrong ...", (Anmerkung 2).
(9) Der Clinton-Plan ist die Zusammenfassung der Vorschläge, die der
damalige US-Präsident am 23. Dezember 2000 zu den wichtigsten Fragen des
Verhältnisses von Israelis und Palästinensern gemacht hat. Der
vollständige Text ist im Nahostdossier auf der website von Le Monde
diplomatique nachzulesen:
www.monde-diplomatique.fr/cahier/proche-orient.
(10) Libération vom 26. Februar 2001. Enderlin hat im Laufe der
Zeit mit allen prominenten Teilnehmern der Verhandlungen gesprochen,
unter der Auflage, dass ihre Mitteilungen nicht vor Ende 2001 publiziert
werden dürfen.
(11) Israel und Ägypten gelang es nach dem Friedensvertrag nicht, dieses
Problem zu regeln.
Le Monde diplomatique Nr. 6549 vom
14.9.2001, Seite 1,8-9, 156 Dokumentation ALAIN GRESH
Israelischer Vorschlag Camp David, Sommer 2000
Quelle:
monde-diplomatique.fr/cahier/proche-orient
Quelle:
www.monde-diplomatique.fr/cahier/proche-orient
Quelle:
monde-diplomatique.fr/cahier/proche-orient
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01-10-2001 |