Yirmiyahu Yovel, Philosoph und Historiker:
"Wir befinden uns in der seit Gründung Israels
schlimmsten Situation - es fehlt die Hoffnung"
9 Februar 2002 (LE MONDE)
Wie aus der Sackgasse herauskommen, in der sich Israelis,
ob rechts oder links, und Palästinenser gleichermaßen befinden? In einer
Gesellschaft, welche sich abgefunden hat, mit der Gewalt zu leben, muss
die Hoffnung einer Zwischenlösung neu geweckt werden.
F. Was hat der 11.September in Israël verändert?
Die große Veränderung ist dem 11 September
vorausgegangen: Die Niederlage von Camp David und die bewaffnete
Intifada. Für das Friedenslager in Israël war es eine enorme
Enttäuschung. Es entstand der Eindruck, dass die Palästinenser keinen
Frieden wollen, dass sie die Destabilisierung Israels wünschen. Das hat
nicht nur zur Wahl Sharons geführt, das hat auch ermöglicht, dass die
rechte Rhetorik zur herrschenden Rhetorik geworden ist, nämlich: "Ihr im
Friedenslager, ihr habt uns dreißig Jahre mit Illusionen abgespeist."
Noch ist es schwierig, die Tiefe dieser Enttäuschung abzumessen. Man
hatte jedoch den Eindruck gehabt, eine historische Gelegenheit wäre in
Reichnähe, und solche großen historischen Gelegenheiten finden nur alle
fünfundzwanzig oder dreißig Jahre statt. Unter Ehud Barak unterstützte
eine Mehrheit von über 60 % seine Konzessionen im Dienste des Friedens;
diese Mehrheit ist verschwunden. Heute herrscht das Gefühl einer totalen
Sackgasse.
Bush's Erklärungen zum "internationalen Terror",
unmittelbar nach dem 11.September, haben die israelische Rechte in ihren
Illusionen bestärkt. Die Palästinenser haben Angst bekommen. Es stimmt,
dass Arafats Taktik darin bestand, den Terrorismus gewähren zu lassen,
er hat die Terroristen nicht losgeschickt, er hat sie jedoch
manipuliert. Heute steht er mit dem Rücken an der Wand. Das
palästinensische Establishment weiß, dass der Kampf diplomatisch geführt
werden muss, dass nur mit Anerkennung der Legitimität Israels die
Möglichkeit besteht palästinensische Rechte geltend zu machen.
F. Gibt es nicht auch eine Illusion auf palästinensischer
Seite, die Illusion, dass die Palästinenser, wie im Libanon, die
Israelis mittels Gewalt und Attentaten zermürben können?
Ich stimme dem zu: es ist seitens der Palästinenser eine
tiefe Illusion, ein absolutes Unverständnis der israelischen
Gesellschaft. Sie sind Opfer der eigenen Propaganda. Für sie gibt es nur
erobernde Israelis. Sie weigern sich die tiefen positiven Gründe des
"Warum Israel" kennen zu lernen - damit sie sie nicht anerkennen,
daher machen sie keinen Unterschied zwischen dem was authentisch und
wesentlich für die Israelis ist und dem, was es nicht ist. Sie haben
nicht begriffen, dass Libanon für die Israelis nicht zählt, während der
Staat Israel eine ganz andere Sache ist! Die Palästinenser haben die
Debatte zum Rückkehrrecht eröffnet, die Rückkehr widerspricht jedoch dem
Prinzip zweier Staaten und bedeutet die Destabilisierung und die
Zerstörung Israels als jüdischer Staat.
F. Hat sich die israelische Gesellschaft damit abgefunden
mit dem Terror zu leben?
Wir befinden uns in der schlimmsten Situation seit
Gründung des Staates Israel wegen der fehlenden Hoffnung, rechts wie
links. Nicht in der schlimmsten Situation hinsichtlich der Existenz
Israels, sondern hinsichtlich der Sackgassensituation. In diesem Land
gab es immer eine Hoffnung, ob auf der einen oder auf der anderen Seite.
Für die Linke war es die Hoffnung auf einem stabilen Frieden und
Anerkennung Israels: sie ist zusammengestürzt. Für die Rechte war
es die Hoffnung auf einem Groß-Israel, der Annektierung
palästinensischer Gebiete: sie ist ebenfalls zusammengestürzt. Was macht
man in einer solchen Situation? Man liest Camus und hält durch. Die
Israelis haben nicht gewählt, sich damit abzufinden, durchzuhalten, das
ist nicht ihr bevorzugter Lebensmodus. Das ist für sie die schlimmste
Weise zu existieren. Sie werden aber durchhalten und das ist das, was
die Palästinenser nicht verstehen. Denn es gibt keine Alternative.
F. Aber können die Israelis sich umgekehrt daran gewöhnen
mit einem derartigen Ausmaß von Repression und Gewalt gegen die
Palästinenser?
Vergessen Sie nicht den brutalen und blinden Terror gegen
die israelischen Zivilisten und die Selbstmord-Attentate religiöser
Fanatiker, die ihre Presse als "Kamikaze" verherrlicht. Doch, um Ihre
Frage zu beantworten, denken viele Menschen in Israel, dass es
zuviel ist, dass man so nicht weitermachen kann. Damit dieses Gefühl zur
politischen Kraft wird, muss jedoch eine Alternative entstehen.
F. Woher kann die Alternative kommen?
Es gibt drei mögliche Wege: der erste bedeutet, dass
Israel seine Politik wechselt. Die Politik von Shimon Peres, die derzeit
nicht diejenige der Regierung ist, war, den Attentaten, die Arafat
begünstigt, Rechnung zu tragen, aber nicht denjenigen der Hamas, die
sich gegen Arafat richten, und zu den Verhandlungen zurückzukehren. Der
zweite bedeutet, dass Yasser Arafat die Kontrolle über die
Palästinensische Hoheit übernimmt, einsieht, dass er sich verspielt hat,
und dass er die Gewalt beendet; dann hätte selbst Sharon keine
andere Wahl als zur Verhandlung zurückzukehren. Der dritte Weg ist eine
von den Amerikanern geführten durchsetzungsfähigen diplomatische
Initiative, möglichst unter europäischen Beteiligung.
F. Kann sich die israelische Meinung von
Sharon abwenden? Oder ist sie in einem normalisierten Pessimismus
erstarrt?
Man muss zweierlei Hoffnungstypen unterscheiden: die
Hoffnung auf ein permanentes Arrangement, die unter Ehud Barak vorhanden
war, und die Hoffnung auf ein Interimarrangement. Die erste ist sehr
lädiert; sie wird meiner Ansicht nach nicht bald neu entstehen.
Vielleicht in einigen Jahren. Die Hoffnung auf ein Interimarrangement
kann hingegen von einem Tag zum anderen neu entstehen und einen Ausweg
aus der Sackgasse bieten. Wenn die öffentliche Meinung diese Möglichkeit
sieht, dann kann es einen Umschwung geben. Und Sie werden auch erleben,
dass die moralische Anfechtung der Exzesse der Armee eine politische
Infragestellung werden kann.
F. Welche Rolle hat das Erstarken der antisemitischen
Themen in der arabischen Presse für den aktuellen Konflikt gespielt?
Eine entscheidende Rolle. Es ist nicht allein die Presse.
Dazu müssen Sie die Vehemenz der Predigten in zahlreichen Moscheen und
die antijüdischen Unterrichtsinhalte nehmen. Unser größter Fehler, im
Friedenslager, seit Oslo, ist gewesen, nicht das Ende dieser vehementen
Propaganda im arabischen Lager zu verlangen. Wir haben sie entschuldigt,
wir dachten, mit der Zeit würde sie abnehmen. Diese Nachsicht ist ein
großer Fehler gewesen. Nicht nur hat diese Propaganda nicht aufgehört,
sondern sie hat sogar zugenommen. Die Kluft hat zugenommen. Bei jeder
Neuaufnahme von Verhandlungen sollte Israel auf die Erziehung und
Befriedung der öffentlichen Meinung insistieren. Davon einmal abgesehen,
muss das Ende der Propaganda ein wechselseitiges sein: in einigen
israelischen religiösen Kreisen hört man ebenfalls unverzeihbare Reden
über die Araber.
F. Israels Ansehen hat sich in Frankreich verschlechtert,
insbesondere unter den Jugendlichen. Einige sprechen von einer
Judeophobie. Würden Sie diesen Begriff verwenden?
Als Verallgemeinerung: nein. Doch das Phänomen ist in
einigen Bereichen vorhanden. Ich stelle fest, dass Frankreich stets ein
Grundverständnis für die israelischen Positionen gezeigt hat, stärker
vielleicht unter den Politikern als in den Medien. Ein Teil der Kritiken
ist zweifellos berechtigt, ein anderer Teil ist ungerecht und
gelegentlich empörend. Das Problem betrifft die Weise, wie Nachrichten
vorgestellt werden. Bei den Medien gibt es strukturelle und
konjunkturelle Verzerrungen. Strukturell neigen sie dazu, schnell zu
sein, den Kontext zusammenzustutzen, und sie sind von Gewaltszenen, von
Szenen des Leidens besonders angezogen. Das Ganze führt leicht zu einer
einseitigen Beurteilung. Außerdem neigen im Westen die Journalisten
dazu, die Hüter der Grundwerte ihrer Gesellschaft zu sein - und diese
den Anderen zu predigen, selbst wenn sie wissen, dass ihre eigenen
Landsleute (oder Führer oder Soldaten) in vergleichbaren Situationen zu
denen, über die sie berichten, nicht anders gehandelt hätten. Ich
verstehe "dieses Anliegen" - ich begrüße es sogar, dennoch muss auch die
Gefahr der Heuchelei und der Parteilichkeit gesehen werden. Hinsichtlich
der konjunkturellen Ursachen bemerke ich in Frankreich und in
Europa zwar keinen Anti-Israelismus, das wäre übertrieben, aber ein
Phänomen der Schadenfreude, also diese Lust, wenn der andere an
einem moralischen Problem leidet: "Der Jude, der immer das Opfer gewesen
ist, seht euch euch an, wie er zum Unterdrücker geworden ist..." Man
betont etwas stärker die Fehler der Juden als die der anderen...
Man kann sagen, Juden sind für das westliche Bewusstsein interessanter,
Juden beschäftigen aber auch im negativen Sinne mehr, und das ist
eine sehr verbreitete Art von indirektem Antisemitismus.
Yirmiyahu Yovel, geboren in Haïfa,
65, lehrt an der hebräischen Universität Jerusalem und an der New School
of Social Research in New York. Er ist Autor von "Kant und die
Geschichtsphilosophie", "Spinoza und andere Ketzer" und "Die Juden, in
den Augen Hegels und Nietzsches".
(Gesprächspartner : Alain Frachon und Sylvie Kauffmann)
haGalil onLine 17-02-2002 |