Jeden Tag werden wir dümmer. Die Gewalt in Israel und Palästina
eskaliert, und ein amerikanischer Präsident kann auf den Tisch schlagen
und "Genug!" rufen - die Nachricht verraucht wie der Wetterbericht von
gestern. Täglich werden Solidarisierungen verlangt und geleistet.
Bekenntnisse für die einen, gegen die anderen. "Arafat gleich Hitler!",
skandieren die einen, "Scharon gleich Hitler!" die anderen. Die Rhetorik
der Vernichtung fordert Tribut, eine Rhetorik, die immer nur von der
Vernichtung handelt, die die jeweils andere Seite im Sinn habe. Und
angesichts drohender Vernichtung sei fast alles erlaubt.
Nennen wir die Realitäten beim Namen. Israel hält seit 1967 gegen jedes
Völkerrecht Territorien besetzt, schikaniert und erniedrigt deren
Bevölkerung. Nur dies verhindere die eigene Vernichtung. Hunderttausende
Palästinenser folgten 1948 ihren Führern und flohen, teils mit der
trügerischen Aussicht auf gewaltsame Rückkehr, ohne dass das ihnen
angetane Unrecht anerkannt worden wäre. Viele träumen bis heute davon,
die Juden "ins Meer zu treiben". Die palästinensische Führung, inklusive
Arafat, hat vor zwei Jahren ein weitgehendes, wenn auch unzureichendes
Friedensangebot der Israelis nicht mit einer alternativen Friedensoption
beantwortet, sondern mit der Ermunterung von Selbstmordmassakern, die
nicht nur jeden Zivilisten zum potenziellen Opfer, sondern vor allem
jeden Palästinenser zur potenziellen Bombe machen.
Die israelische Führung hat ein ebenso beispielloses - wenn auch
unzureichendes - Friedensangebot der arabischen Welt wie Luft behandelt
und stattdessen einen Rachefeldzug in die palästinensische
Zivilbevölkerung getragen, mit dem Argument, dort hielten sich die Täter
verborgen. Wo denn sonst? Und nun möchte sie ein "Angebot" verhandeln -
unter Ausschluss von Scharons persönlichem Hassobjekt, dem Präsidenten
der palästinensischen Autonomiebehörde. Also nur die nächste Demütigung?
Scharons Versprechen, der Hydra der Selbstmordattentate die Köpfe
abzuschlagen, hat sich als Hirngespinst eines Mannes erwiesen, der
ebenso wie Arafat ein Gefangener seiner eigenen Taktik geworden ist. Nur
dass er, anders als Arafat, nicht unter Hausarrest steht. Diese nach
beiden Seiten "ungerechte" Liste lässt sich beliebig verlängern. Keine
Seite wird je mit ihr zufrieden sein.
Die Konfliktparteien verstehen zu wollen, wohin führt es? Auf
Ostermärschen war vom Verständnis für Selbstmordattentate die Rede. Und
angesichts antisemitischer Gewalt in Europa beunruhigte Vertreter
jüdischer Gemeinden üben sich in Rechtfertigung für die Politik eines
rechtsradikalen Abenteurers. Wen nimmt dies wunder? Dem Spiegel
fällt zur Gewalt in Israel und Palästina kein anderer Titel ein als das
antisemitische Stereotyp Auge um Auge. Der biblische Krieg. Wenn
in Nordirland Katholiken und Protestanten, in Exjugoslawien Serben und
Kroaten einander massakrieren, spricht niemand von biblischen Kriegen.
Doch die "Ursachenforschung" zum Nahen Osten weicht gern ins
Grundsätzliche aus. Wer deutsche Zeitungen verfolgt, wird den Eindruck
nicht los, als koche so manche trübe Suppe auf diesem Feuer. Nicht
zuletzt ein Artikel in dieser Wochenzeitung, veröffentlicht zum 9.
November 2001, konnte kaum anders verstanden werden, als beschäftige
sich die Öffentlichkeit nicht mit dem Nahostkonflikt, sondern mit den
eigenen Projektionen auf "die Juden". Aus Christoph Dieckmann hat es da
gesprochen: "War nicht das Volk Israel, dem Gott seine Gebote
offenbarte, unterwegs nach einem verheißenen Land, in dem aber längst
andere Menschen lebten? Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt
dafür mit Tod und tötet jeden Tag?" Was sich da Bahn brach, war ein
Ausrutscher. Doch sind sie nicht Momente der Ehrlichkeit? Nicht zufällig
endete Dieckmanns Bekenntnis mit den "Genen der Völker". Was wollte er
damit sagen?
Solange die Wahrnehmung der Gewalt in deutschen Medien immer wieder die
eigenen geschichtsbeladenen "Schuld"-Fantasien beflügelt
(Auschwitzvergleiche aller Art), wird von den jüdischen Gemeinden nur
wenig kritische Distanz zur israelischen Regierungspolitik erwartet
werden können. Dies ist ebenso fatal wie die Versuche einer
Neudefinition deutscher Außenpolitik auf dem Rücken von Ressentiments
und "Tabubrüchen". Dass Joschka Fischer sich von Karl Lamers (CDU)
vorwerfen lassen muss, man höre aus ihm "die Israelis sprechen", mag ein
Treppenwitz sein. Dass Bundeskanzler Schröder den Vorwahlkampf mit der
Ankündigung befeuert, man würde über den Einsatz deutscher Soldaten im
Nahen Osten nachdenken, demonstriert pure Unempfindlichkeit.
Was bleibt noch jenseits blinder Solidarität? Es wäre unwahrhaftig zu
verheimlichen, aus welcher Perspektive sich mir diese Fragen stellen.
Ohne das jüdische Siedlungsprojekt in Palästina hätten meine Eltern den
Holocaust wahrscheinlich nicht überlebt. Sie haben sich dennoch
entschieden, nach Deutschland zurückzukehren, was keine populäre
Entscheidung war. Was bleibt, ist Verbundenheit, aber nicht blinde
Gefolgschaft. So bin ich kein Israeli, sondern Jude und deutscher
Staatsbürger. Doch wo täglich gewaltsam gestorben wird, werden andere,
eindeutigere Identitäten verlangt. Vielleicht ist es Zeit, sie zu
verweigern? Vielleicht ist es Zeit nachzudenken, worin Solidarität
wirklich bestehen kann in den Schranken der Zivilisation und den Regeln
des internationalen Rechts.
Solidarität mit den Israelis, kann es sie heute noch geben, ohne
Solidarität mit den Palästinensern? Der Krieg im Nahen Osten nimmt jeden
Tag mehr die Züge eines Bürgerkrieges an, ohne dass die Gegner Bürger
desselben Staates wären. Noch greift der Konflikt nicht auf die
arabischen Bürger Israels über, die, verängstigt, auch bedroht durch
Selbstmordmörder und zugleich strukturell benachteiligt, jeden Tag
hoffen, nicht hineingezogen zu werden in diesen Strudel der Gewalt.
"Bürgerkrieg": ein schiefes, aber naheliegendes Bild für einen Konflikt,
der keine Unterschiede zwischen Zivilisten und Kombattanten mehr kennt,
der auf einem Territorium ausgetragen wird, dessen innere Grenze eine
Waffenstillstandslinie ist, auf deren Seiten sich im Grunde dieselben
Akteure befinden, nur in anderen Mehrheitsverhältnissen: Juden und
Palästinenser, genauer: jüdische und arabische Israelis und arabische,
aber auch jüdische Palästinenser. Oder denkt jemand im Ernst daran, die
Zweistaatlichkeit, von der alle wissen, dass sie die einzige Lösung ist,
könne in ethnisch oder religiös homogene Staaten münden? Von
Exjugoslawien könnten wir gelernt haben, dass die Bürgerkriege nicht
enden, solange sich die Nachfolgestaaten ethnisch definieren.
"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", sagt eine israelische
Regierung, die sich längst mit Israel gleichgesetzt hat, und
Schlimmeres: die jeden Versuch einer postzionistischen Definition der
israelischen Nation erstickt. Israel sei kein israelisches Projekt,
Israel sei "ein weltweites jüdisches Projekt", erklärt Scharon und
bringt mit diesen Worten nichts anderes zum Ausdruck, als dass Israel
eben nicht das Land seiner jüdischen und nichtjüdischen Bürger sei,
sondern ein "Projekt", an dem nicht die ganze Bevölkerung teilhat. Man
sollte sich keine Illusionen machen: Die Vorstellungen der meisten
palästinensischen Führer über den zukünftigen Staat Palästina sehen
nicht besser aus.
So widern mich Ostermärsche an, auf denen die Selbstverteidigung von
"Kulturen" gepriesen wird. So bin ich, als in Frankfurt für Israel und
gegen Terror demonstriert wurde, zu Hause geblieben und habe weiter
gewartet, dass einmal eine Demonstration für Israel und
Palästina, gegen Besatzung und Terror stattfinde. Dass endlich
aufgehört wird, nach den "Schuldigen" in diesem Konflikt zu suchen; dass
darauf verzichtet wird, Rechtfertigungen für Unrechtfertigbares
auszudenken, nach "dem Böseren" hinter der bösen Tat zu suchen - und
eine Politik begonnen wird, die davon ausgeht, dass beide Seiten die
Grenze dessen, was völkerrechtlich und menschenrechtlich erlaubt sein
kann, längst hinter sich gelassen haben; dass die beiden Seiten wirksam
mit Sanktionen bedroht werden, wenn nicht bedingungslos miteinander
verhandelt wird.
Möglichkeiten der Solidarität
Und so absurd es klingen mag: Viele Freunde in Israel warten
sehnsüchtig auf ein Zeichen, dass die Welt draußen diesen kollektiven
Selbstmord nicht länger hinnimmt. Das Einzige, was mir einstweilen
bleibt, ist, mein von Israel erklärtes "Rückkehrrecht", jene Fiktion
einer angeborenen Zugehörigkeit zur israelischen Nation, die ich weder
beantragt noch je gewünscht habe, in aller Form "zurückzugeben". (Sosehr
dieses Rückkehrrecht nach dem Holocaust begründet war: Wenn Juden meiner
Generation Israelis werden wollen, welches Privileg gegenüber einer 1948
aus Jaffa vertriebenen Familie wollen wir eigentlich geltend machen?)
Nicht um eine Distanzierung von Israel geht es. Im Gegenteil: um die
Möglichkeit einer Solidarität, die tatsächlich gebraucht wird. Eine
Solidarität, die keine Angelegenheit der Juden der Diaspora allein wäre,
sondern eines jeden, der in Zukunft in einer offenen Welt ziviler
Gesellschaften und nicht in einem Zellenblock ethnisch, "kulturell"
abgeschotteter Zwangsgemeinschaften leben möchte. Und wenn dazu eine
internationale Intervention nötig ist, dann muss sie stattfinden.
Hanno Loewy ist Publizist und Filmwissenschaftler. Im PhiloVerlag
erscheint demnächst sein Essayband "Taxi nach Auschwitz"