Wenn Ihr es wollt, ist es kein Traum:
... but I'm not the only one!
Tausende demonstrieren in Tel Aviv für ein
Ende der Besatzung...
Avnery
Aloni
Michael
Siehe auch
The rally was a good one:
The Square was full of People
Von allen hervorragenden Reden an diesem
Abend, war die von Yishai
Rosen-Tzvi die eindrucksvollste:
"Es gibt Dinge, die ein anständiger
Mensch einfach nicht tut"...
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Es gibt keinen Ort in Israel, der ferner sein könnte vom Elend
der besetzten Gebiete, von der um sich greifenden Verwahrlosung in den Straßen
von Hebron oder Ramallah, der depressiven Wut in den Gesichtern und Bewegungen,
von den sogenannte Liquidationen, Bombardements und übrigen Morden, von den
systematischen Demütigungen an den unzähligen Checkpoints, die das
palästinensische Leben buchstäblich in Fetzen geschnitten haben. An einer Seite
dieses Platzes steht das Museum für moderne Kunst, an der anderen das
Stadttheater, und dahinter befinden sich die Oper, die große Bibliothek und die
schicken Restaurants und Koffeeshops, die die Jungen, Schönen und Reichen von
Tel Aviv in diesen Komplex futuristischer Architektur locken.
Wir und die anderen
In den Himmel ragen hier die Wolkenkratzer der Umgebung, Exponate nationaler
Macht: symbolisiert das schlanke Graue als Sitz des Verteidigungsministeriums
die Stärke der israelischen Nation, so stehen die hell erleuchteten Azriel-Türme
für ihren Erfolg. Ein Ort des Wohlstands, des kultivierten Genusses, der
Zivilisation: Nichts liegt hier in der Luft von dem Hass, den die Nation ein
paar Dutzend Kilometer weiter östlich täglich destilliert, um ihn
palästinensischen Demagogen zur Verfeinerung zu reichen, als handele es sich
dabei um einen Zaubertrank, der gleich dem Gold im Märchen jenen Terror stetig
erneuert, von dem die Extremisten beider Seiten leben. Nicht wäre an Krieg zu
denken, wenn nicht die Reggaemusik und der Duft von Marihuana signalisierten,
worum es an diesem Abend geht: um Frieden.
Scheint man anfangs unter Freunden zu sein, die sich von früheren Aktionen
kennen und sich per Handschlag begrüßen, füllt sich der Platz gegen 19 Uhr immer
mehr. Jemand auf der Bühne ruft mit zitternder Stimme die Zahl von 20.000
Teilnehmern ins Mikrophon – das staatliche Fernsehen will später nur wenige
Hundert gesehen haben. Tatsächlich ist es die größte Friedensdemonstration in
zwei Jahrzehnten in diesem Land von Juden und Palästinensern, die sich nur an
die eigenen Opfer beharrlich erinnern, aber schon vergessen haben, dass sie vor
wenig mehr als einem Jahr beinah Frieden geschlossen hätten. Warum die
Verhandlungen gescheitert sind, ist den beiden Völkern längst zu zwei
gegensätzlichen Mythen geronnen. Dann kam Scharon, eskalierte der Terror beider
Seiten, kam schließlich der 11. September und eine amerikanische Regierung, die
der einen Seite einen Freibrief ausstellte.
Paralysiert wirkten in den letzten Monaten die Kräfte des Ausgleichs. Was früher
einmal als die israelische Linke galt, konkurrierte mit Scharon in martialischer
Rhetorik oder verstummte. Es blieben ein paar hundert Friedensaktivisten, die
Menschenrechtsorganisationen, eine verschwindende Minderheit unter den
Politikern, Intellektuellen und Journalisten, die Buch führte über die
Verbrechen ihres Staates.
Allmählich aber findet das Buch wieder Leser. Erstmals in seiner Amtszeit
attestieren Meinungsumfragen Präsident Scharon die Unterstützung von weniger als
fünfzig Prozent der israelischen Bevölkerung. Sein Vertrauen ist nicht wegen den
Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten gesunken, sondern weil
ausgerechnet er, der für Sicherheit zu sorgen angetreten ist, das
verlustreichste Jahr seit zwei Dekaden zu verantworten hat. Zugleich aber
beginnen die Bilder und Berichte von Hauszerstörungen in Palästina, von
weinenden Greisen und getöteten Kindern, Wirkung zu zeigen. Zumindest den Lesern
der regierungskritischen israelischen Presse wird es von Tag zu Tag schwerer
gemacht, die Augen zu verschließen oder die Opfer wie in den rechten Medien als
gefährliche Gewaltbestien zu dämonisieren.
Das linksliberale Establishment könnte es demnächst schon aus Gründen des
politischen Selbsterhalts sinnvoller finden, sich von Scharon und den jetzigen
Führern der Arbeiterpartei abzuwenden, um eine Alternative zur herrschenden
Politik zu präsentieren. Dass vergangene Woche über zweihundert, zum Teil
hochrangige Reservisten und Offiziere den Dienst in den besetzten Gebieten
verweigert haben, weil sie „nicht ein ganzes Volk beherrschen, vertreiben,
aushungern und demütigen wollen“, zeigt, wie sehr das Unbehagen an der
israelischen Politik sogar innerhalb des Sicherheitsapparats wächst. „Wenn man
Mensch sein will, muß man Gesetze und Befehle verweigern, die offenkundig
unmenschlich sind“, ruft einer der Verweigerer, Yishai Rozen-Zwi, zu den
Demonstranten in Tel Aviv.
Die Friedensbewegung, die am Samstag zur ersten Großkundgebung in Tel Aviv
zusammenkam, ist jünger, in viele Grüppchen zersplittert und radikaler als ihre
Vorgängerin: Die meisten der Redner und Zuhörer wollen kein Verhandlungen mehr,
sondern einfach raus aus den besetzten Gebieten. Die eigenen Generäle und
Politiker werden als Kriegsverbrecher denunziert, die Soldaten zum Desertieren
aufgerufen. In den Gesprächen der Demonstranten, aber auch auf der Bühne fallen
Begriffe wie Faschismus, Rassismus und Apartheid in solcher Frequenz, dass der
auswärtige Besucher den Ohren nicht traut. Einige Demonstranten haben ihre
Slogans gegen die Besetzung auf gelbe Judensterne geschrieben.
Die alte, die etablierte Friedensbewegung, die seit Monaten durch Untätigkeit
auffällt, ist offenkundig verunsichert. Die liberale Meretz-Partei ruft nicht
zur Demonstration auf und ist dennoch mit Plakaten präsent. Dem Bündnis Peace
Now, dem es in den achtziger Jahren gelungen ist, Hunderttausende Israelis auf
die Straßen zu rufen, um für den Abzug aus dem Libanon zu demonstrieren, hat vor
lauter Nervosität am Vortag große Anzeigen plaziert, die zu einer alternativen
Kundgebung aufrufen. Ihr neuer Slogan heißt „Return to ourselves“ und verrät
damit einen entscheidenden Unterschied zu denen, die am Samstag in Tel Aviv
demonstriert haben. Mag Peace Now formal auch arabische Israelis eingeschlossen
haben, vertritt es praktisch ein Israel, das die 1967 besetzten Gebiete
zurückzugeben bereit ist, ohne das eigene, jüdische Staatsverständnis
anzutasten. „Ourselves“, das sind die jüdischen und – unausgesprochen – fast
durchweg aschkenazischen Israelis.
Die unlängst gegründeten, kleineren Gruppierungen wie Ta’ayusch oder Gusch
Shaloms setzen sich dagegen nahezu paritätisch aus Juden und Arabern zusammen.
Auf der Kundgebung treten auch arabischsprachige Redner und eine Sängerin auf,
selbst wenn sie nur eine Minderheit versteht. Verschleierte Musliminnen
demonstrieren hier Seite an Seite mit „Lesben für den Frieden“. In den
Erklärungen wird noch nicht an den Grundfesten des israelischen Staates
gerüttelt, aber innerhalb der Gruppen wird schon aufgrund der Präsenz arabischer
Aktivisten offen darüber diskutiert, dass die Verbrechen an den Palästinensern
vielleicht nicht erst 1967, sondern schon 1948 mit ihrer Vertreibung begonnen
haben könnten.
Ein neues Feuer
Die neue Friedensbewegung steht zu weit am Rande der israelischen Gesellschaft,
als dass sie in absehbarer Zeit Massenkundgebungen zustande brächte. Aber sie
hat es geschafft, einen Teil des ehemals linksliberalen Lagers wachzurütteln. Am
nächsten Wochenende findet die alternative Kundgebung von Peace Now statt. Die
meisten Demonstranten des vergangenen Wochenendes wissen, dass sie auch zu den
vorsichtigeren Kriegskritikern gehen müssen, wollen sie politischen Einfluß
üben. Wenn es der neuen Friedensbewegung tatsächlich gelingt, die alte
wiederzubeleben, könnte jener Ruf sich wie ein Feuer ausbreiten, der allein in
der Lage wäre, die Gewalt zu beenden, der Ruf nämlich nach dem Ende der
Besatzung. Und so liegt an diesem Samstag abend in Tel Aviv neben Reggae und
Marihuana noch etwas anderes, ungleich Kostbareres in der Luft: der Frieden. Es
gibt keinen Ort in Israel, der näher an Palästina liegt.
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