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URI AVNERY
Journalist und Politiker, Tel Aviv.
Geb. am 10.September 1923 in Beckum.
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HK: Herr Avnery, die Weltgeschichte der letzten fünfzig Jahre
hat aus Helmut Ostermann in Beckum/Westfalen Uri Avnery in Tel Aviv gemacht. Hat
es in Ihrer Kindheit schon ein jüdisches oder ein zionistisches Element in der
Familie gegeben?
UA: Meine Familie ist deutsch-jüdisch. Meine Großeltern
väterlicherseits waren ziemlich orthodox. Bei meiner Großmutter, die ich nie
gekannt habe, war, glaube ich, sogar die Küche koscher. Bei uns nicht. Mein
Großvater war ein jüdischer Lehrer in Beckum, darum wohnte unsere Familie
überhaupt dort. Er war so eine Art halber Rabbiner. In diesen kleinen Gemeinden,
die keine eigenen Rabbiner hatten, gab es immer jemanden, der ein Halbrabbiner
war. In diesem Sinne waren meine Wurzeln jüdisch. Meine Eltern waren aber nicht
religiös. Sie gingen nur noch an den großen Feiertagen in die Synagoge. Ich
selbst war in Deutschland vielleicht jedes Jahr zweimal in der Synagoge. Mein
Vater war zionistisch, von Jugend auf, ich weiß nicht warum. Es war seine Art,
sich für etwas zu begeistern. Noch vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland
Zionist zu sein, war wirklich etwas Außergewöhnliches. Die deutschen Zionisten
damals, so wie die amerikanischen Zionisten heute, haben wirklich nicht davon
geträumt, selbst nach Palästina zu gehen. 1933 ist dann unsere Familie
emigriert. Wir waren vier Kinder. Alle anderen Verwandten sind ums Leben
gekommen, Onkel, Tanten, Cousinen. Dass mein Vater so früh beschlossen hat,
auszuwandem, zeigt natürlich, daß der Zionismus doch den Effekt gehabt hat, dass
diese Leute früher gemerkt haben als andere, was wirklich passiert. Als mein
Vater sich auf dem Polizeirevier abgemeldet hat, hat der Beamte gesagt: "Herr
Ostermann, was fällt Ihnen eigentlich ein, Sie sind doch Deutscher wie wir."
Aber nach dem ersten Angerempeltwerden hat mein Vater beschlossen: Wir wandern
aus. Ich erinnere mich noch an die Diskussionen in der weiteren Familie. Die
anderen, die sagten: "Du bist verrückt. Was hast du in der Wüste zu tun?"
Wir sind an meinem zehnten Geburtstag ausgewandert. Einen Monat später waren wir
hier. Pünktlich an meinem achtzehnten Geburtstag habe ich meinen Namen geändert.
Eher war es nicht möglich, denn es galt noch britisches Gesetz, im
Mandatsgebiet. Bomben haben wir schon mit fünfzehn geschmissen, aber erwachsen
waren wir erst mit achtzehn.
HK: Was ist für Sie entscheidender: die Zugehörigkeit zum
Volke der Juden oder die zum Staat Israel?
UA: Das ist ein Identitätsproblem, das wir hier in Israel
überhaupt haben: Was sind wir eigentlich, sind wir Israelis oder sind wir Juden?
Und in welcher Reihenfolge? Ich gehöre zu denen, die sagen: Ich bin vor allem
Israeli und erst in zweiter Linie jüdisch. Aber Sie werden tausend verschiedene
Auffassungen darüber finden, was es heißt, jüdisch zu sein. Ich bin völlig
atheistisch. Für mich ist die jüdische Religion nichts als eine interessante
historische Erscheinung und Tradition. Das Jüdische, das tief in uns allen
steckt, ist meiner Auffassung nach etwas Humanistisches, das in den letzten
Jahrhunderten aus der Summe vieler Faktoren und Traditionen entstanden ist.
Unserer Geschichte verdanken wir gewisse Erkenntnisse, und ich wünsche mir, dass
unser israelischer Nationalismus, unsere israelische Existenz als Nation und
Staat, irgendwie diese humanistische Situation reflektieren möge. Das ist
jüdisch an mir.
HK: Viele, darunter auch Nichtgläubige, haben, als die Bilder
aus den befreiten Konzentrationslagern um die Welt gingen, die Frage gestellt:
Wie war es möglich? Wie soll man sich einen Gott vorstellen, der das zugelassen
hat?
UA: Der Gott, der Auschwitz zugelassen hat, kann nur
unmoralisch sein oder gar nicht existieren. Da ich ein Atheist bin, ist für mich
die Frage ohnehin entschieden. Es ist mir unverständlich, wie überhaupt jemand
religiös sein kann. Für mich ist Religiosität eine Schwäche. Die Einstellung
eines Menschen, der nicht stark genug ist, die Realität des Lebens und des Todes
nüchtern ins Auge zu fassen, eigentlich sich nicht damit abfinden kann, dass das
Leben zeitlich begrenzt ist, dass die Natur unmoralisch ist, dass die
menschliche Natur sehr fragwürdig ist. Als ich noch jung war, war hier im Lande
die Religiosität am Absterben. Ich war fünfzehn Jahre alt, und es war für mich
ganz klar, für uns alle war es klar, dass die Religion, wie die jiddische
Sprache und die deutschen Angewohnheiten, zu den alten Leuten gehört. Die alten
Leute sterben allmählich aus, und dann sind wir endlich diese Sache los. Ich war
damals ein Jahr lang in einem Dorf. Es gab auch eine Synagoge, aber jeder
Kuhstall war ein Palast im Vergleich zu dieser Synagoge. Es war eine alte
Holzhütte, wo sich alte Leute am Sabbat getroffen haben. Das Theater war das
größte Gebäude in diesem Dorf. Theater war für die Menschen dort viel wichtiger.
Und heute? Ganz das Gegenteil: Die religiösen Kräfte im Lande werden stärker,
extremer, es gibt einen jüdischen Fundamentalismus, der dem Khomeinismus in
nichts nachsteht. Ich muss wohl einfach akzeptieren, dass Religion offenbar
einem sehr tiefen menschlichen Bedürfnis entspricht. Was wir in diesem Land
schaffen wollten, eine gewisse geistige Kraft, durch eine Erziehung, die wie
unsere eigene Erziehung sein sollte, nicht religiös, sondern säkularistisch -
das ist anscheinend nicht gelungen. Es wird kein Messias kommen, und kein Mensch
wird die Welt verändern außer wir selbst. Wir sind der Messias. Entweder können
wir die geistigen Kräfte aufbringen, um die Welt zu verändern - dramatisch oder
in einem langsameren Prozess - oder nicht.
Der Glaube an einen Messias ist eine geistige Krankheit. Bei sehr religiösen
Juden sehen sie das: Die sagen, wir brauchen überhaupt nichts zu tun, wir müssen
nur beten, und eines Tages, heute, morgen, in tausend Jahren, in einer Million
Jahren, kommt jemand und verändert alles. Der Geist Israels heute ist genau das
Gegenteil. Denn wenn irgend etwas uns Israelis heute wirklich kennzeichnet, dann
ist es gerade der Aktivismus, ist es gerade die Einstellung, dass wir alles
verändern können. Das ist im Grunde auch eine jüdische Auffassung. Man kann
dafür sogar Wurzeln in der jüdischen Religion finden. Einer der ältesten
hebräischen Aussprüche von Rabbi Hillel heißt: Wenn ich nicht für mich bin, wer
ist für mich? Und wenn nicht jetzt, wann? Im Grunde ist die jüdische Religion
keine passive Religion, und dieser Messias ist im Grunde kein Teil der jüdischen
Auffassung. Wir müssen uns selber erlösen. Wenn wir es nicht tun, sind wir
selbst schuld.
HK: Die Gründung Israels ist nicht gerade ein Zeichen von
Schicksalsergebenheit.
UA: Das war damals die Revolution, die der Zionismus bewirkt
hat, mit seinem Grundentschluss, dass wir als Volk ein Subjekt der Geschichte
sein wollen und nicht mehr ein Objekt. Dass wir unser eigenes Schicksal, zum
Guten oder zum Schlechten, aber doch unser eigenes Schicksal bestimmen wollen.
Ein Großteil des jüdischen Volkes hat ja übrigens dabei nicht mitgemacht, und
für mich zeigt sich da ein ganz gewaltiger Unterschied zwischen den Juden der
Welt und uns. Wir sind eine Nation. Als Nation sind wir israelisch, nicht
jüdisch. Ein Teil des jüdischen Volkes ist eine Nation geworden, so wie zum
Beispiel Teile des angelsächsischen Volkes eine australische Nation und eine
kanadische Nation gebildet haben. Wenn es so etwas gibt wie ein deutsches Volk,
hat es heute vier verschiedene Nationen. Aber es gibt ja überhaupt keine gültige
Definition, was die Juden wirklich sind! Sie sind etwas Eigenartiges in der
heutigen Welt, und das, obwohl sie vor zweitausend Jahren nicht eigenartig
waren, denn Völker in der Art, wie die Juden es heute sind, waren alle vor
zweitausend Jahren, nämlich Völker, die auf einer Kulturgemeinschaft beruht
haben und nicht auf einem Territorium. Zur Zeit Jesu gehörten ein Jude in
Jerusalem und ein Jude in Alexandria zum selben Volk. Ein Jude in Jerusalem und
ein Grieche in Jerusalem gehörten nicht zum selben Volk. Aber selbst wenn die
Juden der Welt ein Volk sind - eine Nation ist die jüdische Diaspora nicht, denn
sie gehört verschiedenen Nationen an, der amerikanischen, der sowjetischen.
Wir hier sind eine neue Nation, eine israelische Nation, die
jüdische Komponenten hat, aber nicht ausschließlich jüdisch ist. Und sogar
innerhalb der jüdischen Komponente gibt es viele verschiedene Nuancen, die mit
der Herkunft zu tun haben. Ich kann heute noch, wenn ich einen Jungen oder ein
Mädchen von acht zehn Jahren treffe, ihnen ansehen, ob die Eltern aus
Deutschland oder aus Amerika gekommen sind. Dann gibt es die orientalischen
Juden, Marokkaner, afghanische Juden, die ganze orientalische und die ganze
askenasische Tradition. In diesem Sinne ist Israel ein äußerst interessantes,
einzigartiges Land. In Amerika gibt es auch viele ethnische Gruppen mit eigenen
Sprachen und eigenen Lebensformen. Sie bilden eine gemeinsame amerikanische
Nation, haben eine gemeinsame Fahne, eine gemeinsame nationale Einstellung. Hier
haben sie all das, dazu aber ein gemeinsames Bewußtsein, zu einer alten Nation
zu gehören, zu einer Tradition, die Jahrtausende zurückgeht. In diesem
Zusammenhang spielt die Bibel doch bei uns eine ungeheuer große Rolle. Nicht,
weil sie die gemeinsame Religion ausdrücken würde, sondern weil aus ihr unsere
Sprache kommt. Sie ist unsere historische Erinnerung. Sie ist für uns das Buch,
in dem die Dinge aufgeschrieben sind, die zu dieser Landschaft gehören. Für
Israel wird ja, wie damals für Amerika, das Bild des "melting pot", des
Schmelztiegels der Völker, gebraucht. Ich finde das kein gutes Bild. Man denkt
dabei an einen Kessel, in den Goldsachen hineingeworfen und zu einer formlosen
Masse zusammengekocht werden. Wir sind aber eher ein Schmelzofen, in dem sich
neue Formen bilden.
Man kann darüber streiten, inwieweit es eine eigene israelische Kultur schon
gibt - ich glaube, es gibt sie, ich glaube auch, daß es in der neuhebräischen
Sprache schon Literatur gibt, eine israelische Poesie. Aber die Episode Israel
steht noch an ihrem Anfang.
Das ganze Experiment ist hundert Jahre alt, der Staat vierzig, alles ist noch in
Bildung und kann sich zu etwas sehr Schönem, aber auch zu etwas sehr Häßlichem
entwickeln.
HK: Herr Avnery, Ihnen geht der Ruf voraus, kritische
Stimme hier in der Politik Israels zu sein.
UA: Ich bin eine sehr kritische Stimme, vom ersten Tage
dieses Staates an, und zwar, weil meine Auffassung dieses Staates Israel
ganz verschieden ist von der offiziellen Doktrin. Ich betrachte Israel
nicht als einen Staat, der den Juden der Welt gehört, was die
offizielle, durch Gesetz festgelegte Auffassung ist, sondern als einen
Staat, der seinen Einwohnern gehört, seinen Bürgern. Und diese
Staatsbürger sind teils jüdisch und teils arabisch. Ich möchte, dass in
diesem Staat die jüdischen Bürger die Mehrheit sind, weil eben dieser
Staat darum aufgebaut worden ist, uns die Gelegenheit zu geben, ein
Subjekt der Geschichte zu werden und unsere nationale Persönlichkeit
auszudrücken. Ich will aber, dass dieser Staat ein säkularistischer, ein
demokratischer Staat ist, in dem alle Staatsbürger, unabhängig von
Abstammung, Rasse, Nation, Glauben, Sprache, Geschichte und was immer,
gleichberechtigt sind. Damit bin ich automatisch in der Opposition zu
allen Gesetzen, die formell oder praktisch Unterschiede machen zwischen
den Juden und Arabern und auch zwischen orientalischen Juden und
askenasischen Juden.
Dieser Staat ist 1948 offiziell durch Beschluss der Vereinten Nationen
gegründet worden. Inhalt dieses Beschlusses, der in unserer
Unabhängigkeitserklärung als eine der Grundlagen dieses Staates erwähnt
wird, war, dieses Land in zwei Staaten zu teilen, einen jüdischen Staat
und einen arabischen Staat. In diesem Sinne ist Israel ein jüdischer
Staat. Die Frage ist nur: Was ist ein jüdischer Staat? Diese
Grundprobleme werden in Israel sehr selten überhaupt angesprochen. Die
Diskussion darüber ist nie zu einem Ergebnis gekommen. Ein jüdischer
Staat ist ein Staat, der den Juden gehört. Welchen Juden - den Juden,
die hier sind, oder den Juden der ganzen Welt? Gehört er dem jüdischen
Volke, und was ist überhaupt das jüdische Volk? Soll der Staat selbst
eine Funktion haben, den jüdischen Glauben durch Gesetz zu fördern? All
das sind Fragen, die ungelöst sind.
In der Praxis räumen gewisse Gesetze wie das
Einbürgerungsgesetz Leuten, die als Juden bezeichnet werden, gewisse
Rechte ein, die Nichtjuden nicht haben. Ein neues Gesetz, das halb
heimlich verabschiedet worden ist, besagt, dass kein Mensch in Israel
das Recht hat, eine Wahlliste aufzustellen, wenn er verleugnet, dass
Israel ein Staat des jüdischen Volkes ist. Was heißt "verleugnet"? Das
ist beinahe schon eine Sache des Glaubens, eine religiöse Doktrin.
Danach ist die jüdische Gemeinde in Moskau oder in Berlin oder München
mehr Inhaber dieses Staates als die Araber. Ich opponiere dieser
Grundauffassung. Ich sage, wir haben als Juden diesen Staat errichtet,
und solange wir hier in der Mehrheit sind, werden wir den Staat
benutzen, um den Juden zu helfen, die irgendwo in der Welt in Gefahr
sind. Aber er soll ein moderner, säkularistischer, liberaler,
humanistischer Staat sein, wie wir es in der westlichen demokratischen
Welt von einem Staat erwarten. Diese Auffassung habe ich schon immer
gehabt.
Viele Leute hier glauben, ich sei in der Opposition, was
das Palästinaproblem betrifft. Meine Einstellung dazu ist aber nur ein
Resultat dieser Grundeinstellung. Ich bin auch für eine totale Trennung
zwischen Religion und Staat. Die offizielle Doktrin sagt das Gegenteil:
Bei den Juden sei kein Unterschied zwischen Religion und Nation und
daher auch kein Unter schied zwischen Religion und Staat. Der Staat hat
das Recht, uns religiöse Gesetze durch das säkulare Staatsgesetz
aufzuzwingen. Und diese Grundauffassung bringt eine Opposition in
praktisch allen Fragen mit sich. Ich war zehn Jahre lang im Parlament,
habe mindestens tausend Reden gehalten, und es ist in diesen zehn Jahren
in der Knesset kaum ein Thema diskutiert worden, bei dem ich mich nicht
in der Opposition befand. Die Leute glauben, ich sei von Grund auf ein
Querkopf und aus Prinzip gegen alles. Das stimmt nicht.
HK: In der israelischen Gesellschaft gibt es nicht mehr
die Beschränkungen, die es für die Juden in der Diaspora, im extremen
Fall in den Ghettos, immer gegeben hat. Gerade diese Beschränkungen und
dieses Sich-durchsetzen-Müssen haben aber vielleicht oft besondere
Energien freigesetzt, zu einer besonderen Entfaltung von Phantasie
geführt.
UA: Ich erkenne diese Frage wieder: Ist die Diaspora
kreativer als wir? Die Frage ist aber: Was heißt kreativ? Unsere
Kreativität, unser Schaffen, ist kollektiv. Wir haben eine hebräische
Sprache geschaffen, wir haben eine neue hebräische Kultur geschaffen,
unser Militär, unseren Staat. Sie dürfen nicht die großen Leistungen der
Juden in der Diaspora aufzählen und fragen: Wo sind mehr Rabbiner, wo
sind mehr Nobelpreisträger, wo sind mehr Wissenschaftler. Einen Staat zu
erhalten, erfordert eine ganz andere Konstellation der geistigen Kräfte.
Wir haben ziemlich gute Waffen und ziemlich gute Offiziere. Wer Offizier
ist, kann nicht zur selben Zeit ein großer Dichter sein oder ein großer
Komponist oder ein großer Wissenschaftler. Er ist ein Militär, das
absorbiert seine geistigen Kräfte. Wie definiert man eine Kultur? Ist
die Schaffung einer Armee keine kulturelle Schöpfung? Ich meine ja. Sie
können heute Israel mit Deutschland vergleichen oder mit England oder
mit Dänemark oder mit der Schweiz. Sie können Israel aber nicht mit den
Juden vergleichen. Die Juden in der Welt sind, da sie keine Nation sind,
von solchen Dingen dispensiert.
Es gibt Leute, die sagen: Sehr, sehr schade, dass ein
Zionismus uberhaupt jemals entstanden ist, denn er hat die Juden ärmer
gemacht. Ich will das gar nicht bestreiten. Ich will sagen, wir haben
etwas ganz anderes gewollt: einen besseren Staat, ein humanes Militär,
eine bessere Politik.
HK: Wie sehen Sie die Zukunft der Juden, zum einen in
Israel, zum anderen in der Diaspora?
UA: Die Juden in der Diaspora haben es einfach, es
besteht keine Gefahr für sie. Sogar der Holocaust war keine Gefahr für
die Juden in der Diaspora. Er war eine Gefahr für das jüdische
Individuum, aber keine Gefahr für das Judentum. Gerade die Diaspora ist
ja eine Erfindung, die das Judentum verewigt. Man kann die Juden hier
ausrotten, dann werden sie dort sein, und wenn man sie dort ausrottet,
werden sie wieder hier sein. Die Juden in der Diaspora haben ihre
Schätze, und die sind geistiger Natur. Die Juden produzieren nichts, was
beständig ist. Es gibt keine jüdische Architektur, wohl aber eine
jüdische Literatur, eine jüdische Religion. Dinge, die man mitschleppen
kann, die man leicht einpacken kann, so dass man fortlaufen kann. Darum
ist die jüdische Diaspora eine Widerlegung des Zionismus. Eine der
Illusionen des Zionismus war, dass wir in einem jüdischen Staat sicherer
sein sollten. Genau das Gegenteil stimmt. Um sicher zu sein, soll man
überhaupt keinen Staat haben, man soll verstreut sein in der Welt und
mobil. Wir haben unsere Sicherheit aufgegeben und uns dem Sturm der
Weltgeschichte ausgesetzt, denn einen Staat kann man vernichten. Das
haben wir unbewusst oder bewusst auf uns genommen. Die Zukunft Israels
ist ein Experiment. Vierzig Jahre in der Geschichte eines Staates sind
ein kleiner Augenblick, hundert Jahre in der Geschichte eines Volkes
sind ein kleiner Augenblick. Ich möchte gern in zweihundert Jahren
wiederkommen und sehen, was aus der Sache geworden ist. Ich bin wirklich
sehr neugierig. Denn Israel ist, glaube ich, der interessanteste Staat
der Welt. Alle Probleme sind unentschieden. Was wir nur sagen können,
ist, dass wir mitten im Kampf stehen und es in diesem Kampf so viele
Faktoren gibt, dass wir sie uns gar nicht bewusst machen können. Wir
wissen nur, was in den Zeitungen steht. Politik, Wirtschaft, Krawalle,
Kriege, dies und das, aber das ist nur der Schaum auf dem Wasser. Wenn
in hundert Jahren dieser Staat noch besteht, wird er weder eine
Fortsetzung des orientalischen noch des westlichen Judentums sein.
Irgend etwas Neues wird dabei herauskommen. Das können wir uns heute
noch gar nicht vorstellen. Auch wir sind nicht mehr solche Juden, wie
unsere Eltern es waren. Und die jungen Marokkaner, die heute die
Universitäten in Jerusalem und Tel Aviv absolvieren, sind nicht mehr
dieselben orientalischen Juden wie ihre Eltern oder Großeltern in
Casablanca. Israel ist kein Mittelmeerland. Es ist kein westlicher
Staat, es ist kein östlicher Staat, kein orientalischer Staat, es ist
etwas anderes, eine Mischung von allem und doch etwas Eigenes.
Wenn ich aus Ägypten komme und am Ben-Gurion-Airport aus dem Flugzeug
steige, ist es, als käme ich nach Deutschland. Wenn ich aus Deutschland
komme und steige hier aus, glaube ich, ich sei in Ägypten. Das ist das
Interessante, das Schöne in Israel, dass man sich seiner selbst bewusst
sein kann, wenn man will, dass man bei einer Schöpfung dabei ist und
dass man beeinflussen kann, in welche Richtung es gehen soll. Das ist
der Grund, warum ein Mensch wie ich gar nicht woanders leben könnte.
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Quelle: Jüdische Portraits
Photographien und Interviews von Herlinde Koelbl
Neuausgabe.
Mit 80 s/w-Abbildungen
S. Fischer Verlag
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Achtzig Photographien und Gespräche portraitieren die
letzte Generation jüdischer Deutscher, die noch in das intellektuelle
und geistige Klima der deutsch-jüdischen Symbiose hineingeboren wurde -
und die dann dessen Zerstörung erleben musste.
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10-09-2001 |