Die Verantwortung Europas
Kommentar von Ya'ir Sheleg, Ha'aretz, 02.05.2002
Natürlich kann nicht jede Kritik an Israel als Antisemitismus bezeichnet werden.
Doch Europas derzeitige Haltung gegenüber Israel ist so feindlich und einseitig,
dass sie einige Erklärungen verlangt, die von der Erforschung der kollektiven
Psyche herrühren.
Mehrere solcher Erklärungen wurden in der
Vergangenheit gehört. Z. B. solche über europäische Interessen, die die
einheimische moslemische Wählerschaft und die Abhängigkeit von arabischem Öl
einschließen. Oder es gibt die Annahme, dass das post-koloniale Europa jeden
Konflikt zwischen der Ersten und der Dritten Welt auf der Basis des
Kolonialismus betrachtet, auch wenn die Umstände des Konfliktes vollkommen
andere sind. Jüdische Gruppen führen außerdem an, der europäische Antisemitismus
stamme von der uralten Feindschaft der Christen gegenüber den Juden.
Außer diesen Erklärungen gibt es auch
eine Theorie darüber, dass Europa daran interessiert ist, seine Sünden bezüglich
des jüdischen Volkes zu beschönigen. Sünden, die beispielsweise durch die im
letzten Jahrzehnt aufgetretene Kritik an Europa bezüglich der Rückgabe von
jüdischem Eigentum aus der Shoah-Periode oder anhand neuer Fakten, die über den
Grad der Kollaboration der europäischen Nationen mit den Nazis veröffentlicht
wurden, verdeutlicht werden.
Die "Wahrheit" würde, sofern sie
ermittelt werden kann, alle diese Erklärungen mit einschließen. Doch in dem
komplexen Thema der Beziehung zwischen Europa, den Juden und dem Nahen Osten
gibt es einen Aspekt, der normalerweise vergessen wird - Europas indirekte
Verantwortung für die Schaffung des palästinensischen Problems. In all den
Jahren des Exils hörten die nationalen Instinkte des jüdischen Volkes nicht auf
zu existieren. Und gewiss verstärkten sie sich aufgrund der Explosion des
Nationalismus im 19. Jahrhundert.
Nichtsdestoweniger ist es eindeutig, dass
es der europäische Antisemitismus war, der der zionistischen Bewegung den
entscheidenden Anstoß gab, angefangen von den Pogromen in Russland im Jahr 1881,
über den Dreyfus-Prozess, bis hin zur Shoah. Es ist möglicherweise das Gefühl
von Schuld, welches eines der versteckten Motive der europäischen Position ist.
Doch in diesem Fall tauchen mehrere Fragen auf.
1. Welche moralische Gültigkeit haben die
Strafpredigten, die Europa Israel wegen dessen Haltung gegenüber den
Palästinensern hält, wenn Europa selbst die gesamte Verantwortung -selbst wenn
sie indirekt ist- für das Elend der Palästinenser trägt?
2. Wäre es nicht passender für Europa,
wenn es zu allererst eine Bindung zu denen, denen es direkt geschadet hat -den
Juden- demonstrieren würde anstatt zu denen, denen als Ergebnis dieser
schlechten Behandlung indirekt geschadet wurde?
3. Sollte Europa -als Partei, die für das
Leiden beider Seiten verantwortlich ist- nicht seinen Teil zu einer
konstruktiven Lösung des Problems beitragen, anstatt seine aggressive
anti-israelische Rhetorik überdeutlich zu artikulieren? Es könnte z. B.
anbieten, palästinensische Flüchtlinge in seinen reichen Nationen aufzunehmen
(zumindest diejenigen Palästinenser, die gehen wollen).
Wenn dieser Vorschlag Verachtung weckt,
so kommt diese von Europas eigenem erfolglosen Versuch (um es milde
auszudrücken), moslemische Immigranten aufzunehmen. Experten führen auf, dass
die steigende Kriminalität, besonders in Frankreich, hauptsächlich von diesem
Versagen bezüglich der Eingliederung herrührt. Doch anstatt das
Eingliederungssystem zu verbessern, ziehen die Europäer Lösungen vor wie z. B.
die Macht von Rassisten wie Le Pen und Haider zu verstärken und zusätzlich
Israel für seine Haltung gegenüber den Palästinensern zu kritisieren.
Ein weiteres Ereignis aus der jüngeren
Zeit hat denjenigen Europäern, die daran interessiert sind, Blutbäder zu
untersuchen, die Möglichkeit gegeben, in ihren eigenen Hinterhof zu schauen,
nämlich der holländische Bericht über das Massaker in Srebenica im Juli 1995. Er
enthüllt kriminelle Fahrlässigkeit auf Seiten der holländischen Streitkräfte,
die den Mord von 7000 bosnischen Zivilisten durch die Serben nicht verhinderten.
Die holländische Regierung trat wegen
dieses Berichtes zurück. Doch der Europäer, der aufrichtig an humanitären Fragen
interessiert ist, kann immer noch von denen, die diese Affäre umgeben,
beunruhigt werden, wie ein Bericht des in Israel geborenen Holländers Dr.
Manfred Gerstenfeld zeigt. Wie konnte es passieren, dass die öffentliche Meinung
der Holländer nicht von dem Ereignis selbst wachgerüttelt wurde, sondern erst am
5. Jahrestag des Ereignisses? Warum berief die holländische Regierung die
Untersuchungskommission erst ein Jahr nach dem Massaker? Warum benötigte die
Kommission so viele Jahre, um den Bericht zu schreiben? Und warum wurde im
Bericht nicht empfohlen, hinsichtlich der Verantwortung personenbezogene
Konsequenzen zu ziehen?
Solch ein betroffener Humanist wäre
sicherlich an einem Vergleich zu Israels Verhalten in der Sabra- und
Shatila-Affäre interessiert (als Palästinenser in Flüchtlingslagern im Libanon
von libanesischen Christen massakriert wurden und Sharon beschuldigt wurde, dies
nicht verhindert zu haben). Damals wurde zwei Wochen nach dem Blutbad eine
Untersuchungskommission einberufen (nach stürmischen Massendemonstrationen). Die
Kommission schloss ihre Arbeit nach vier Monaten ab und sprach die direkte
Empfehlung aus, der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon solle dazu
veranlasst werden, sein Amt zu quittieren.
haGalil onLine 04-05-2002 |