Stille Zerstörung:
Die "innere Abriegelung"
Von Amira Hass
(Aus dem Epilog für die deutsche Ausgabe von "Gaza - Tage und
Nächte in einem besetzten Land" [BESTELLEN]
[PRÄSENTATION])
Epilog Teil 1 -
2 - 3
-4
... Bereits mehrere Monate vor dem Ausbruch der
Gewalt erklärte ein hochrangiger Offizier der IDF im Gespräch mit
Journalisten, daß die Armee entschlossen sei, die Siedlungen und
ihre israelischen Bewohner zu verteidigen (im Westjordanland, dem
Gazastreifen und Ostjerusalem zusammen etwa 400.000. In diesen
Gebieten leben zur Zeit rund drei Millionen Palästinenser).
Offensichtlich ging er von der Annahme aus, daß die Palästinenser
versuchen würden, an diese israelischen Ableger heranzukommen und
sie anzugreifen.
Neben scharfen Schüssen an den Checkpoints und
gelegentlichen Bombardements mit Hubschraubern gehörte die "innere
Abriegelung" fast von Anfang an zu den operativen Maßnahmen der
Armee. Inzwischen ist sie zum Hauptcharakteristikum des israelischen
Angriffs geworden, obwohl im Laufe des Jahres 2000 die direkten
militärischen Maßnahmen intensiviert wurden: "Rückeroberung" der
Städte, massive Zerstörung von Häusern mit Bulldozern, Beschuss und
Bombardierung der Viertel von Flüchtlingslagern, die an Siedlungen
angrenzen, Beschuss und Bombardierung von mitten in Wohngebieten
liegenden Bauwerken der PA, regelmäßige Tötung von Zivilisten,
monatelange Ausgangssperren. Die Abriegelung spielte jedoch weiter
die Rolle der "stillen Zerstörung" - ein von der Weltbank geprägter
Ausdruck, der sich auf die verheerenden wirtschaftlichen, sozialen
und psychologischen Auswirkungen bezieht, die die Abriegelung auf
lange wie auf kurze Sicht auf das Leben der Palästinenser hat.
Seit dem Oktober 2ooo wurden die
abwechslungsreichen Landschaften des Westjordanlandes - Täler und
eine Wüste, Felsen, von denen das Wasser in dünnen Rinnsalen tropft,
grüne Ebenen mit üppigen Obstgärten und Berge voller Olivenbaume -
mit einer Topographie überzogen, die die IDF geschaffen hat. Das
Westjordanland wurde schrittweise in eine Ansammlung unzähliger
Enklaven à la Gazastreifen umgewandelt, nur daß diese Enklaven noch
viel kleiner sind: von ihrer Umwelt abgeschnittene Ortschaften, die
man nur betreten oder verlassen darf, wenn der örtliche
IDF-Offizier, die Befehle des Oberkommandos der Armee und die
israelische Regierung es gestatten.
Betonklotze, tiefe Gräben, Barrikaden aus Sand -
denen immer wieder durch einen in der Ferne sichtbaren israelischen
Panzer oder einen gepanzerten Jeep und schwerbewaffnete Soldaten
Nachdruck verliehen wird -, diese Straßensperren, die den freien
Verkehr zwischen den palästinensischen Ortschaften blockieren, sind
innerhalb von zwei Jahren zu festen Bestandteilen der Landschaft
geworden, so natürlich und unverrückbar wie ein Felsen aus
vergangenen Erdzeitaltern und so allgegenwärtig wie die Olivenbäume.
Das ist die "innere Abriegelung", die es den Palästinensern nicht
nur unmöglich macht, das Westjordanland zu verlassen, sondern sie
auch daran hindert, sich zwischen ihren einzelnen Ortschaften zu
bewegen.
Die Abhängigkeit der palästinensischen Dörfer und
Städte voneinander (bezüglich Arbeit, medizinischer Versorgung,
Schule, Familienleben und Handel) zwang die Menschen dazu, sich dem
Verkehrsverbot täglich zu widersetzen. Sie nehmen lange Fußmärsche
auf sich, umgehen die Straßensperren, verstecken sich vor den (um
sich schießenden) Militärpatrouillen, erklimmen Berge und steigen in
Täler hinunter, machen Umwege von fünfzig Kilometern, wechseln die
öffentlichen Verkehrsmittel alle zehn Kilometer, um endlich an ihrem
Ziel in einer Stadt anzukommen, die bislang mit einer Autofahrt von
fünfzehn Minuten zu erreichen war.
Je mehr sie sich widersetzen, desto mehr wird das
System perfektioniert. Manche Städte und Dörfer wurden inzwischen
mit verschlossenen Eisentoren versehen, deren Schlüssel die Soldaten
in Verwahrung haben. Mancherorts wurden Städte mit Stacheldraht
eingezäunt. Autos können nur noch durch einen einzigen Ein- und
Ausgang passieren, der von der Armee bewacht wird. Nachdem die
interne Abriegelung angeordnet worden war und die dazu notwendigen
physischen Maßnahmen abgeschlossen waren, folgten die
administrativ-bürokratischen Schritte. Der erste war das Verbot, die
Hauptverbindungsstraßen und Highways im Westjordanland zu benutzen,
die von den jüdischen Siedlern befahren werden. Wer gegen dieses
Verbot verstößt, wird der Polizei gemeldet und mit einer Geldstrafe
belegt. Dann wurden die bürokratischen Maßnahmen weiterentwickelt:
Wer von einer (eingezäunten und mit Straßensperren abgeriegelten)
palästinensischen Stadt in eine andere gelangen will, braucht dazu
eine Genehmigung von den israelischen Behörden. Manche Leute
beantragen solche Genehmigungen, andere tun es nicht. Waren dürfen
im "back-to-back"-System, das während der Oslo-Jahre im Gazastreifen
erfunden wurde, in die Ortschaften gebracht werden. Dies wird als
vorbeugende Maßnahme gegen die Infiltration von Terroristen erklärt.
Der gleiche Prozeß, der zwischen 1991 und 1997 in
Gaza stattfand und in
"Gaza -
Tage und Nächte in einem besetzten Land" geschildert
wurde, wird nun - mit genau den gleichen Begründungen - im
Westjordanland mit seinen zwei Millionen Palästinensern wiederholt,
reproduziert und vervielfältigt. Wenn im Gazastreifen 1,1 Millionen
Menschen in einem schmalen Streifen von etwa 378 Quadratkilometern
eingesperrt wurden, werden nun im Westjordanland Gemeinden von 800
bis 180.000 Einwohnern in sehr viel kleineren Enklaven mit
Straßensperren und Stacheldraht von der Außenwelt abgeschnitten. Und
Gaza selbst wurde seit 2001 praktisch in drei Unterenklaven
eingeteilt, die voneinander abgeschnitten und getrennt sind. Was die
Palästinenser in den Jahren 2001 und 2002 durchgemacht haben, ist
also nur ein quantitativer und kein qualitativer Wechsel in Israels
Abriegelungspolitik. Sie ist nun sehr viel greifbarer und
verbreiteter, weil es inzwischen zweihundert und mehr
"Erez-Checkpoints" gibt, aber das Prinzip ist unverändert.
Mit der inneren Abriegelung hat Israel sein oft
zitiertes Ziel einer demographischen Trennung von Juden und
Palästinensern in einem Land erreicht. Die zielstrebige
Weiterentwicklung der Siedlungen während des "Friedensjahrzehnts"
(das 1991 begann) hatte die Entstehung eines einzigen Staates in
einem Land zur Folge, das sich vom Mittelmeer bis zum Jordan
erstreckt. Die Infrastruktur, die zum Zweck der Verbesserung der
Situation der Siedler entwickelt wurde, ist die Infrastruktur eines
einzigen Staates, Israels. Schnelle Straßen verbinden die Siedlungen
mit dem Mutterland, das Elektrizitätsnetz, das
Wasserversorgungssystem, die Schulen, das Steuersystem, die Gerichte
und Polizeistationen sind die gleichen. Nur daß zwischen diesen
israelischen Ablegern, die so sorglich mit dem Mutterland
verflochten wurden, ein anderes Volk lebt, ein Volk, dessen
Entwicklungschancen a priori von den verschiedenen Regierungen
Israels begrenzt wurden, dessen Zugang zu Wasser- und Landreserven
systematisch limitiert wurde.
Zwei ethnische Gruppen leben in einem Land,
und
eine Regierung entscheidet über die Richtung, in der sie sich
entwickeln dürfen. Die beiden ethnischen Gruppen unterliegen
unterschiedlichen Rechtsystemen und haben nicht das gleiche Recht
auf Staatsbürgerschaft, Land, Wasser und Lebensraum. Die
Palästinenser, die israelische Staatsbürger sind, haben das Recht zu
wählen. Seit Jahren versuchen sie, mit politischen Mitteln gegen
Diskriminierung und für Gleichberechtigung mit den Juden zu kämpfen.
Die Palästinenser im Westjordanland und dem Gazastreifen, die keine
israelischen Staatsbürger sind, haben ihren Widerstand gegen die
israelische Militärherrschaft auf jede nur erdenkliche Weise
artikuliert: mit Waffengewalt und dem Festhalten an ihrem Land, mit
juristischen Mitteln und mit Bomben, die jüdische Kinder töten, mit
Verhandlungen und öffentlichen Demonstrationen, mit dummen
Erklärungen und offenen Worten über ihre Leiden, ihre Träume und
ihre Hoffnungen.
... wird
fortgesetzt...
Epilog Teil
1 - 2
-
3 -
4
Lesungen mit Amira Hass
hagalil.com
10-09-2003 |